Was für Menschen sind in einer Forensik untergebracht?
Lippstadt, 1994: Ein verurteilter mehrfacher Vergewaltiger darf ohne Aufsicht einen Spaziergang machen. Er lebt in der forensischen Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn. Ihm fällt ein siebenjähriges Mädchen auf. Bei einem seiner Ausgänge zerrt er sie ins Unterholz, vergewaltigt und tötet die Siebenjährige.
Der Vorfall 1994 in Eickelborn sei ein extrem seltenes Beispiel für das, was durch Lockerungen für Straftäter in einer forensischen Psychiatrie passieren kann, heißt es vom zuständigen Landesministerium. Insgesamt seien dem Ministerium in den letzten Jahrzehnten drei schwere Straftaten gemeldet worden, die verurteilte Straftäter bei genehmigten Aufenthalten außerhalb ihrer Einrichtung begangen haben.
Derzeit sind rund 3300 Personen strafrechtsbezogen in den 17 forensischen Psychiatrien in NRW untergebracht. Das geht aus einer aktuellen Übersicht des Landesministeriums hervor. 17 solcher Einrichtungen gibt es in NRW. Eine davon befindet sich in der LVR-Klinik in Langenfeld im Kreis Mettmann. Wir haben mit Chefärztin Jutta Muysers gesprochen. Sie arbeitet seit 1990 im Bereich der Forensik und sagt über mögliche Lockerungen: "Wir versuchen abzuwägen: Wie hoch ist die Gefahr? Was hat unsere Behandlung zwischenzeitlich ergeben?"
Lokalzeit: Was sind das für Menschen, die bei Ihnen untergebracht sind?
Muysers: Es gibt zwei Gruppen: Die einen sind Suchtkranke und die anderen psychisch Kranke. Bei den Suchtkranken ist der Aufenthalt nach zwei Jahren zu Ende. Die Unterbringung für psychisch Kranke ist erst mal unbegrenzt. Sie endet erst, wenn festgestellt wird, dass keine weitere Gefahr besteht. Der größte Anteil der psychisch Kranken sind schizophrene Patienten, die vereinfacht gesagt irgendetwas sehen, hören oder glauben, was nicht wirklich da ist. Dann haben wir einen kleinen Anteil von intelligenzgeminderten Patienten und wir haben auch noch sogenannte persönlichkeitsgestörte Patienten. Das sind ganz oft Patienten, die Probleme mit Sexualität oder mit Aggressivität haben. In Langenfeld behandeln wir ausschließlich männliche Patienten, aber es gibt natürlich auch weibliche.
Patienten, keine Häftlinge
Lokalzeit: Was macht das mit Ihnen, schweren Straftätern so nah zu kommen?
Muysers: Es ist wie bei allen schwierigen Aufgaben: Je länger man was macht, desto besser findet man einen Umgang damit. Es gibt immer wieder Patienten, die ganz schlimme Sachen gemacht haben, vor allem, wenn es um Kinder als Opfer geht. Darüber denke ich dann viel nach, auch wenn die Arbeit zu Ende ist. Aber es ist wichtig, auch irgendwann Abstand zu finden. Man muss sich klar machen, dass das ein Straftäter ist. Was er gemacht hat, ist sehr schlimm. Gleichzeitig ist er aber auch mein Patient und ich muss alles versuchen, um ihn zu behandeln. Und dann muss ich auch nach Hause gehen können und sagen können, jetzt ist mein Feierabend und jetzt muss ich etwas anderes machen.
Lokalzeit: Wie läuft die Behandlung in einer forensischen Psychiatrie ab?
Muysers: Alle haben ein umfangreiches Behandlungsprogramm. Das beinhaltet: möglicherweise Medikamente, Einzeltherapie, Gruppentherapie. Dann gibt es weitere Maßnahmen wie die Auseinandersetzung mit anderen Menschen, Reintegration in das Arbeitsleben, Sporttherapie. Wir haben eine Schule mit Lehrkräften. Es geht immer darum, die Reintegration vernünftig vorzubereiten. Die meisten Patienten haben den ganzen Tag ein durchlaufendes Programm.
Krankenhausstation und Wohnheim in einem
Lokalzeit: Wie leben die Patienten bei Ihnen?
Muysers: Eine Krankenhausstation kann sich ja jeder erstmal vorstellen. Es stehen aber bei uns keine Infusionsständer rum oder andere medizinische Geräte. Die Patienten leben in Einzel- oder Doppelzimmern und dürfen auch persönliche Gegenstände haben. Sie dürfen Bilder aufhängen, sie dürfen zum Teil, wo wir es zulassen können, Fernseher oder Musikapparate in ihren Zimmern haben. Dann gibt es ähnlich wie in einem Wohnheim Gemeinschaftsräume, in denen zusammen gegessen wird oder in denen sich Patienten aufhalten können, mal etwas spielen können oder Gruppentherapien stattfinden. Wir haben einen eingezäunten Garten und es gibt überall eine Küche, sodass Patienten sich gegebenenfalls auch selber etwas kochen können.
Lokalzeit: Wie wird über Lockerungen und Ausflüge entschieden?
Muysers: Darüber wird in der Regel in einer großen Besprechung entschieden. Da sitzen alle, die an der Behandlung beteiligt sind, zusammen. Und dann prüfen wir zum Beispiel, ob der Patient eine Stunde alleine auf dem Gelände spazieren gehen darf. Wir versuchen abzuwägen: Wie hoch ist die Gefahr? Was hat unsere Behandlung zwischenzeitlich ergeben? Meistens sprechen wir auch mit dem Patienten, wie er sich einschätzt. Es ist immer ein Oberarzt oder Chefarzt dabei, um die Entscheidung dann auch verantwortlich tragen zu können. Es gibt bei den Ausgängen dann verschiedene Stufen: Zunächst Einzelausgänge oder in Gruppen mit Begleitung auf dem Gelände. Dann Ausflüge zum Supermarkt in der Nähe und Stadt-Ausgang. Und das entwickelt sich dann weiter.
Lokalzeit: Gibt es durch solche Lockerungen ein höheres Ausbruchrisiko?
Muysers: Ausbrüche haben wir sehr wenige, das sind schonmal Suchtpatienten, die Suchtdruck haben. Das hatten wir aber auch schon lange nicht mehr. Was gelegentlich passiert, ist, dass psychisch Kranke entweichen. Also aus einem genehmigten Ausgang verspätet zurückkehren oder zu ihren Verwandten gehen, obwohl sie nicht die Erlaubnis haben. Die wichtige Frage ist ja immer: Passiert bei solchen Regelverstößen was? Ich hatte früher mal einen Patienten. Er ist regelmäßig weggelaufen, weil er seine Mutter im Altenheim besuchen wollte. Dann kam er aber nach Stunden wieder zurück. Wir wussten dann schon, wo er war, und konnten die Polizei hin schicken, weil er diese Erlaubnis eigentlich nicht hatte.
Warum manche Patienten für immer bleiben
Lokalzeit: Warum finden Sie es wichtig, die Straftäter zu resozialisieren?
Muysers: Jemanden, bei dem man grundsätzlich weiß, dass eine Behandlung irgendwann greift, darf man nicht einfach für immer wegsperren.
Lokalzeit: Gibt es auch Patienten, bei denen die Behandlung nicht greift und die für immer bleiben müssen?
Muysers: Ja, natürlich. Wir haben jegliche zeitliche Verläufe. Wir haben Patienten, die nach drei bis vier Jahren entlassen werden. Wir haben aber auch Patienten, bei denen die Behandlung lange nicht greift, die sind dann deutlich länger da. Ich habe auch schon Patienten nach 20 Jahren entlassen, weil sich plötzlich doch was getan hat. Die menschliche Seele arbeitet ja immer.
Lokalzeit: Wie wird über die Entlassungen der psychisch kranken Straftäter entschieden?
Muysers: Die Unterbringung wird regelmäßig durch das Gericht und mit externen Gutachten überprüft. Dann wird der Patient zunächst beurlaubt und darf schon draußen wohnen. Und wenn sich alles bewährt hat, dann kann das Gericht unserem Vorschlag folgen und eine Entlassung auf Bewährung verfügen. Verstöße gegen Auflagen können natürlich dazu führen, dass man dann zurück muss.
Lokalzeit: Fühlen Sie sich verantwortlich, wenn später doch etwas passiert?
Muysers: Das kommt immer auf die Dimension an. Wenn jemand seine Medikamente nicht nimmt und wieder krank wird, führt das ja erst mal nicht dazu, dass andere Menschen geschädigt werden. Wenn jemand aber irgendwas macht und jemand dabei geschädigt wird, dann versuchen wir, das aufzuarbeiten und zu gucken, wo unser Fehler ist. Fehlerkorrektur ist natürlich eine ganz wichtige Aufgabe. Aber man muss sagen, die Komplikationsrate bei uns im Maßregelvollzug ist nicht hoch. Weil wir alles sehr gut gesteuert und durchdacht betreiben können, sind die Rückfallraten deutlich geringer, als wenn man aus der Haft entlassen wird.