Der Einsatz
Ein solcher Vorfall passiert im Juli 2023 einem Ehepaar in Bielefeld. Der 35-jährige Amir Jahanian arbeitet als Neurowissenschaftler und Dozent an der Universität Bielefeld, seine 33-jährige Frau Hadis Imani ist ebenfalls Neurowissenschaftlerin und promoviert zurzeit. Das Paar stammt aus dem Iran, in den letzten Jahren forschten sie in verschiedenen europäischen Städten, etwa in Portugal und Norwegen. Seit 2019 leben sie in Deutschland. Dass ihnen ausgerechnet im ostwestfälischen Bielefeld solch ein dramatischer Vorfall widerfahren wird, war für sie undenkbar.
Auf der Suche nach einem straffälligen Mitglied der Hells Angels bricht ein SEK ihre Wohnungstüre auf. Um sechs Uhr morgens, das Paar schläft noch, wird Amir Jahanian durch ein lautes Geräusch aus dem Schlaf geweckt: "Es klang wie eine Explosion. Plötzlich standen in unserem Schlafzimmer mehrere Personen, die schwer bewaffnet waren. Ich fragte mich, ob das Einbrecher oder Terroristen seien. Ich bekam Todesangst, als sie mich überwältigten und dachte mir nur, das ist das Ende deines Lebens." Auch seine Frau Hadis Imani beschreibt die Situation als sehr beängstigend: "Im ersten Moment konnte ich meinen Augen nicht trauen, ob ich diese Personen wirklich in unserem Schlafzimmer sehe oder nicht. Es war ein Riesenschock."
Die Polizisten setzen Gewalt ein
Es sind Polizeibeamte eines Spezialeinsatzkommandos, kurz SEK. Das sind extra für diesen Zweck ausgebildete Beamte, die schwer bewaffnet Wohnungen von Tatverdächtigen stürmen. Doch zu diesem Zeitpunkt wissen die beiden Wissenschaftler das nicht. Auf ihre Fragen geben die großen, vermummten Männer mit den Schusswaffen in den Händen keine Antwort. "Sie haben mich aufs Bett gestoßen und gingen auf mich los. Eine Person hat mir mit seinen Fäusten sehr aggressiv ins Gesicht geschlagen, obwohl ich meine Hände hob. Zwei weitere Männer packten mich von der Seite, nahmen meine Hände hinter den Rücken und legten mir Handschellen an", erinnert sich Amir Jahanian.
Er berichtet davon, wie er den Beamten mehrfach mitteilte, dass er als Wissenschaftler an der Uni Bielefeld arbeite, seine Ausweisdokumente und die seiner Frau auf dem Tisch lägen, woraus all diese Informationen hervorgingen. "Mich haben sie nicht geschlagen, doch ich hatte Angst, mich zu bewegen. Ich war schockiert und wie erstarrt, ohnehin nicht in der Lage, mich zu bewegen. Und ich dachte, würde ich es doch tun, schießen sie vielleicht", sagt Hadis Imani.
Während Imani auf dem Bett sitzt und über ihr ein Beamter mit seiner Waffe steht, sitzt Amir Jahanian in Unterwäsche auf dem Boden, seine Hände sind hinter seinem Rücken gefesselt. Er blutet und hat mehrere Wunden am ganzen Körper. Weitere Versuche des Paares, das Missverständnis aufzuklären, scheiterten, erzählt Jahanian: "Ich erinnere mich an den Moment, als Hadis etwas sagte und der eine Mann darauf erwiderte, sie solle den Mund halten. Sie erlaubten ihr nicht, etwas zu sagen."
Der Irrtum
Laut des Paares dauert es etwa 15 Minuten, bevor die Einsatzkräfte die Identität des Paares überprüfen. Daraufhin entfacht Hektik unter den Polizisten. Andere SEK-Beamte rennen nun durchs Treppenhaus nach oben in die Dachgeschosswohnung, die sich zwei Etagen über der Wohnung der Wissenschaftler befindet.
Dort lebt ihr Nachbar, den sie bislang kaum kennen, da sie erst wenige Wochen zuvor in ihre Wohnung eingezogen sind. Jetzt ist auch dem SEK-Team klar: Sie haben sich in der Wohnungstür geirrt. Sie haben den falschen Mann überwältigt und festgesetzt.
- Auch bei diesem Einsatz passierten einige Fehler: Der dreifache Polizistenmord von Oberhausen 1972
Das Fatale: Die eigentlich gesuchte Person aus dem Rockermilieu ist während des Eingriffs gar nicht zu Hause, sondern bereits auf der Flucht, wie sich später herausstellen wird. Zudem hat der Verdächtige, den Amir Jahanian als großen, muskulösen Mann mit kurzen, hellen Haaren und Augen beschreibt, keinerlei Ähnlichkeit mit ihm.
Die Folgen
Hadis Imani dokumentiert die zahlreichen Verletzungen ihres Mannes anhand mehrerer Videos und Fotos, um das viel zu harte Vorgehen der Spezialkräfte gegen Amir Jahanian festzuhalten. Sie erstatten Anzeige gegen die Polizei und fordern neben Schmerzensgeld auch Ausgleichszahlungen für die enormen Lohnausfälle, die die Neurowissenschaftler im Nachgang des Vorfalls haben.
Jahanian nimmt erst über ein Jahr später seine Arbeit wieder auf, Hadis Imani kommt nur langsam in ihren Alltag zurück. Zudem mussten sie aus ihrer Wohnung in eine neue umziehen, weil sie die alte zu sehr an das belastende Erlebte erinnerte. Auch gingen einige Möbelstücke durch den SEK-Einsatz zu Bruch. Über die körperlichen und seelischen Folgen spricht das Paar auch in unserem YouTube-Format "Lokalzeit MordOrte".
Polizei entschuldigt sich
Die Bielefelder Polizeipräsidentin entschuldigte sich noch am selben Tag bei dem Ehepaar und versprach schnelle Hilfe bei der Suche nach einer neuen Wohnung. Doch das passierte nicht, berichtet Amir Jahanian: "Die Polizeipräsidentin sagte, es tue ihr leid. Sie hätten nach einer Wohnung geschaut, doch nichts gefunden. Wir sollten uns selbst ein Hotel buchen, sagte sie. Ich fragte sie, ob sie das bezahle, schließlich müssten wir das Hotel jetzt buchen. Sie antwortete, wir sollen das Hotel selbst bezahlen und die Quittung zur Begleichung später einreichen."
Die Hotelkosten und finanzielle Hilfen für ihren späteren Umzug in eine neue Wohnung sowie für die Anschaffung einiger neuer Möbelstücke wurden an das Paar ausbezahlt. Doch das reiche bei Weitem nicht, sagt Jahanian: "Während unser gemeinsames Einkommen viel, viel geringer wurde, steigen gleichzeitig unsere Kosten, etwa für diese Wohnung, die deutlich teurer ist als unsere alte. Die Hilfe, die uns die Behörden gaben und die Ausgaben, die wir haben, stehen in keinem Verhältnis."
Der Streit dauert noch an
Aktuell hält der juristische Streit vor dem Landgericht Bielefeld noch an. Amir Jahanian arbeitet inzwischen zwar wieder, doch es sei nichts mehr wie vor dem Ereignis: "Es ist kompliziert seitdem, wir hatten viele Probleme. Es geht mir bis heute nicht gut. Ich habe mich noch immer nicht erholt von dem Vorfall. Es fühlt sich alles noch so dunkel an."
Auch seine Frau versucht, sich nach und nach zurück ins Leben zu kämpfen: "Ich gehe seit etwa zwei Jahren regelmäßig zur Psychotherapie. Ich habe zwar kleinere Fortschritte gemacht, aber ich habe mich noch immer nicht vollumfänglich von dem Ereignis erholt. Ich habe weiterhin Schwierigkeiten und mentale Probleme, die durch den Vorfall verursacht wurden. Es ist ein andauernder Prozess."
Über dieses Thema berichten wir auch am 08.04.2025 im WDR-Fernsehen: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.