Polizeiforscher im Interview: Wie geht die Polizei mit Provokationen um?

Düren | Verbrechen

Stand: 27.01.2025, 17:02 Uhr

In Düren legen sich im November 2016 ein Vater und seine erwachsenen Söhne mit der Polizei an. Am Ende müssen zehn Beamte ins Krankenhaus. Der Anlass: Ein Strafzettel. Polizeiforscher Antonio Vera erklärt am Fall das schwierige Abwägen von Eskalation und Deeskalation im Einsatz.

Von Florian Dolle

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Düren 2016: Gewaltexzess wegen eines Knöllchens

Am 12. November 2016 wechselt der 47-jährige Junus Samrah (Name geändert) am Straßenrand gerade die Reifen an seinem Auto. Dabei sieht er, wie ein Mitarbeiter des Ordnungsdienstes einen Strafzettel ausstellen will. Nicht für Samrah, sondern für ein fremdes Auto auf der anderen Straßenseite.

Trotzdem geht der 47-Jährige auf den Ordnungsamtsmitarbeiter zu und droht ihm. Falls er das Knöllchen nicht zurücknimmt, werde das Konsequenzen für das Wohl seiner Familie haben. Der Beamte bekommt es mit der Angst zu tun und verständigt die Polizei. Auch Junus Samrah ruft Verstärkung. Mindestens vier seiner erwachsenen Söhne treffen wenig später am Tatort ein. Dann eskaliert die Situation zwischen den Beamten und der Familie.

Einer der Söhne prügelt kurze Zeit später so lange auf den Kopf eines Polizisten ein, bis dessen Augenhöhle bricht. Ein Jahr später wird dieser Sohn von Junus Samrah am Aachener Landgericht zu vier Jahren Haft verurteilt. Der Vater und zwei andere Söhne bekommen Bewährungsstrafen und Sozialstunden. Alle Hintergründe zum Fall gibt es auch in der Folge von WDR Lokalzeit MordOrte:

Wie bereiten sich Polizisten auf solche Gewalt-Eskalationen vor? Wie verhalten sie sich bei einem solchen Einsatz? Diese Fragen hat MordOrte-Host Florian Dolle mit Antonio Vera besprochen.

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Provokationen im Polizei-Alltag

Antonio Vera ist Universitätsprofessor an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Sein Fachgebiet ist Organisation und Personalmanagement.

Lokalzeit: "Das ist meine Straße hier!" Diesen Satz soll der Vater zu dem Mitarbeiter vom Ordnungsdienst vor den Handgreiflichkeiten gesagt haben. Gibt es so etwas wie "Alarmsprech"? Sätze, bei denen Ihre Kollegen besonders wachsam werden?

Antonio Vera: Eine Liste mit Sätzen oder konkrete Stichworte gibt es nicht. Aber ein Polizist muss sich bewusst sein, dass bestimmte Sätze gesagt werden, um eine Reaktion zu provozieren. Sätze wie "Das ist meine Straße" können der Anfang so eines Gewaltexzesses sein. Allerdings war dieser Satz in meinen Augen hier vielleicht nicht nur reine Provokation. In Deutschland müssen Falschparker ein Bußgeld zahlen. Aber das kann in anderen Gegenden der Welt ganz anders aussehen. Da können die Beteiligten über so etwas diskutieren. Das ist also in gewisser Weise ein kultureller Unterschied, der ein riesiges Konfliktpotenzial mit sich bringen kann. Das als Polizist zu erahnen, ist aber eigentlich unmöglich.

Universitätsprofessor Antonio Vera über den polizeilichen Umgang mit Gewalt-Eskalationen | Bildquelle: WDR

Lokalzeit: Der Satz war nun gefallen und den Polizisten stand wenig später eine gewaltbereite Gruppe gegenüber. Was ist in solchen Situationen das erste, was ein Polizist macht?

Vera: Deeskalation ist für uns immer das erste Ziel. Wenn jemand "Das ist meine Straße" sagt, hat er aber offenbar wenig Interesse an einer friedlichen Lösung. Zumal der Satz auch falsch ist. Das ist nicht seine Straße. Als Polizei kann man darüber nicht einfach so hinwegsehen oder das so stehen lassen. Daher war es richtig, was die Kollegen gemacht haben. Sie haben erstmal Verstärkung angefordert.

  • Wann ist die Polizei eigentlich verpflichtet zu ermitteln? Darüber haben wir auch mit Antonio Vera gesprochen. Hier gibt es das Interview.

Lokalzeit: Gibt es so etwas wie einen "Schlüsselmoment", in dem die Stimmung kippt und Polizisten nicht mehr mit den Menschen reden können?

Vera: Ja, es gibt sogenannte "Points of no Return". Momente, in denen beschwichtigende Worte nicht mehr helfen. Nur ist es schwierig, sie zu identifizieren. Das ist in der Praxis kaum möglich. Dafür ist zu viel los in diesen heiklen Situationen. Wichtig ist für Polizisten, klar zu entscheiden, wie sie sich weiter verhalten.

Lokalzeit: Was ist, wenn dieser Punkt überschritten ist und ein Rückzug nicht mehr möglich ist?

Vera: Polizisten brauchen ein Gespür dafür, ab wann der Punkt erreicht ist, an dem Deeskalation nicht mehr hilft. Ab dem es bewusst zur Eskalation kommt. Spätestens dann, wenn er oder sie selber bedroht wird. In diesem Fall muss beim Gegenüber ganz klar ankommen, dass jetzt durchgegriffen wird, um den Zustand von Recht und Ordnung wiederherzustellen. Manchmal erfordert die Lage aber auch einen taktischen Rückzug, um Verstärkung anzufordern.

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Die Tendenz der "kürzeren Zündschnur"

Lokalzeit: Wird die "Zündschnur" generell kürzer? Bemerken Sie einen Wandel in unserer Gesellschaft?

Vera: Konkrete Zahlen haben wir nicht. Es ist auch schwierig zu quantifizieren. Denn Gewalt ist ein dehnbarer Begriff und sehr subjektiv. Wo fängt sie an? Das hängt von der Wahrnehmung der beteiligten Personen ab. Oder vom Kulturkreis. Aber wir haben eine gewisse Wahrnehmung, einen Eindruck des Status Quo. Einmal durch die Kollegen, aber auch über die Bürger, die uns Erlebnisse aus ihrem Alltag mitteilen. Und da scheint es aktuell eine schnellere Bereitschaft zu Gewalt zu geben. Auch wenn sie nicht allgegenwärtig ist und sich nicht durch alle Bevölkerungsschichten zieht. Aber durch manche Milieus eben schon. Dort ist schneller der Punkt erreicht, wo physische Aspekte eine Rolle spielen.

Lokalzeit: Wie sollten wir als Gesellschaft damit umgehen?

Vera: Wir dürfen diesen Punkt als Gesellschaft nicht schönreden. So zu tun, als dürfe Gewalt gar nicht existieren, ist ein Fehler. Das nimmt uns die Handlungsfähigkeit. Die Kulturkreise, die wir in unserer Gesellschaft haben, sind inzwischen heterogener als früher. In manchen Familien ist Gewalt etwas völlig Normales. In anderen überhaupt nicht. Wenn diese Kreise aber aufeinandertreffen, zum Beispiel in Schulen, kann es zu Konflikten kommen. Daher ist Gewaltkompetenz wichtig. Für beide Seiten. Die gesunde Mitte zwischen Überreagieren und gar nicht reagieren. Dann käme es meiner Meinung nach auch seltener zu solchen Eskalationen von Gewalt.

Lokalzeit: Viele Polizisten in Deutschland kommen selbst aus verschiedenen Kulturkreisen. Inwiefern hilft das in der Polizeiarbeit?

Vera: Das hilft uns sehr. Zuerst einmal, weil oftmals die sprachlichen Barrieren wegfallen. Wir erreichen die Menschen besser, wenn wir mit ihnen reden können. Allein die Anwesenheit von den Kollegen aus demselben Kulturkreis wirkt deeskalierend. Wir treten nicht als der große, fremde, deutsche Staat auf, sondern als Teil von ihnen. Wir zeigen: Wir sind auch hier, um euch zu helfen, euch zu vertreten. Es zeigt sich immer mehr, dass sich das bezahlt macht.

Um das am Fall aus Düren zu verdeutlichen: Dort kam die Familie aus einer Kultur, in der das Wort des Vaters hohen Stellenwert hat, quasi Gesetz ist. Eine autoritäre Struktur, in der es um Ehre und Respekt geht. Dass das für die Menschen sehr viel bedeutet, muss man als Polizist aber erstmal wissen und verstehen. Erst mit diesem Vorwissen wird deutlich, wie viel Zündstoff in der Situation wirklich steckt: Die Söhne sehen ihren Vater durch eine andere Autorität, in dem Fall die der Polizisten, angegriffen. Sensibel dafür zu sein, kann manche Konflikte sicher verhindern.

Lokalzeit: Welche Rolle spielt die Polizei-Ausbildung als Vorbereitung auf solche Situationen und Konstellationen?

Vera: Natürlich wird jeder Polizist in Schulungen während der Ausbildung darauf vorbereitet, Eskalationsprozesse früh als solche zu erkennen. Aber vor allem zusammen mit erfahrenen Kollegen im Einsatz sammelt man Erfahrung. Wie kann ich früh genug reagieren? Was kann ich noch machen, damit es eben nicht eskaliert? Wann ich deeskaliere oder eben auch gezielt eskaliere, ist eine Sache von Erfahrung. Das kann Ihnen kein Buch beibringen.