Ermittlungen nach 45 Jahren im Fall Claudia Wilbert: Wie verlässlich sind Erinnerungen?
Stand: 11.11.2024, 17:06 Uhr
Im Rhein-Sieg-Kreis wird im Jahr 1979 die Leiche der 17-jährigen Schülerin Claudia Wilbert gefunden. Jetzt, über 45 Jahre später, bittet die Bonner Polizei die Öffentlichkeit um Hinweise. Aber wie verlässlich sind Erinnerungen nach so langer Zeit? Aileen Oeberst von der Universität Potsdam gibt Antworten.
Von Axel Sommer
Ein Mädchen verschwindet spurlos
Es geschieht am 28. März 1979: Das St.-Joseph-Gymnasium in Rheinbach ist damals noch eine reine Mädchen-Schule. Schülerinnen veranstalten einen Dia-Abend zur gemeinsamen Klassenfahrt nach Rom. Draußen wartet ein Unbekannter. Der Unbekannte verfolgt zunächst eine Mitschülerin der 17-jährigen Claudia Wilbert. Doch als diese in ihr Elternhaus flüchten kann, sucht er nach einem anderen Opfer.
Claudia Wilbert wartet nach dem Dia-Abend auf ihren Bruder draußen vor der Schule, der sie abholen will. Doch sie wird ihn nie wiedersehen. Der Unbekannte taucht plötzlich neben ihr auf und schiebt das Mädchen in sein Auto. Zwei Tage später wird ihre Leiche auf einem Parkplatz in der Nähe gefunden.
Mehrere Zeugen erinnern sich an Details des Täter-Fahrzeugs, aber nicht an das Kennzeichen. Die Polizei stochert im Dunkeln und findet den Täter bis heute nicht. Doch ein anonymer Brief an die ZDF-Redaktion 'Aktenzeichen xy… ungelöst' im Dezember 2023 und an das Polizeipräsidium Bonn, bringt den Fall wieder in Bewegung: Die vierköpfige Bonner Ermittlungsgruppe Cold Cases beschließt, mit dem Fall Claudia Wilbert wieder an die Öffentlichkeit zu gehen. Denn der anonyme Briefschreiber behauptet nach 45 Jahren, den Namen des Täters zu kennen. Den ganzen Fall und Auszüge aus dem Brief gibt es bei Lokalzeit MordOrte auf YouTube:
Wie verlässlich sind Erinnerungen?
Lokalzeit: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich jemand, der so einen Brief schreibt, nach so langer Zeit auch tatsächlich richtig erinnert?
Aileen Oeberst: Es klingt auf jeden Fall schon mal so, dass das, was in diesem Brief steht, durchaus mit polizeilichen Erkenntnissen übereinstimmt. Und das spricht ein Stück weit dafür, dass es korrekt ist, was die Person dort wiedergibt - und sich somit wahrscheinlich richtig erinnert. Was eine Person von sich selbst aus erzählt, also nicht auf Nachfrage, ist typischerweise in Bezug auf solche Ereignisse auch sehr häufig sehr korrekt. Erstaunlich korrekt. Auch nach einem sehr langen Zeitraum noch. Weniger Vertrauen hätte ich wahrscheinlich im Bezug auf Details, aber im Hinblick auf das Kerngeschehen hätte ich wahrscheinlich relativ hohes Vertrauen.
Aileen Oeberst ist Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Potsdam
Lokalzeit: Gibt es Erkenntnisse darüber, ab wann eine Erinnerung nicht mehr so gut ist?
Oeberst: Nein, das kann man eher nicht sagen. Es gibt Forschung, die zeigt, dass sich Menschen selbst nach 20 Jahren an eine medizinische Untersuchung erinnern, die mal durchgeführt wurde. Als zum Beispiel geklärt werden sollte, ob ein Fall von Kindesmissbrauch vorliegt. Diese medizinische Untersuchung konnten Personen, obwohl sie zum Zeitpunkt der Untersuchung noch relativ jung waren, auch 20 Jahre später noch ziemlich korrekt beschreiben. Aber das sind so Ereignisse, an die wir uns auch besonders gut erinnern.
Wann irren sich Zeugen?
Lokalzeit: Die Bonner Polizei hat bis jetzt über 160 Hinweise erhalten. Das sind für einen solch alten Fall überdurchschnittlich viele. Welche psychologischen Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass sich Menschen auch nach langer Zeit noch an Details erinnern können?
Oeberst: Typischerweise funktioniert unser Gedächtnis so, dass wir ganz viel vergessen. Also ganz viel, was völlig unwichtig für uns ist. Wir erinnern uns nicht an die hunderttausenden Mittagessen, die wir in unserem Leben erlebt haben, weil es auch nicht wichtig für uns ist. Was aber wichtig für uns ist, dazu funktioniert unser Gedächtnis besonders gut. Dinge, die anders waren als das, was wir sonst so erleben. Dinge, die emotional waren. Dinge, die uns selbst wirklich betrafen, also Dinge, die für uns selbst relevant sind. Daran erinnern wir uns relativ gut. Stress trägt tatsächlich auch dazu bei, dass unser Gedächtnis diese Erinnerungen besonders gut abspeichert.
- Zum Beitrag: Zehn Fragen an einen Cold-Case-Ermittler
Lokalzeit: Was sagen aktuelle Studien zum Thema BIAS? Also welche Falsch-Erinnerungen treten besonders häufig auf?
Oeberst: Größere Verzerrungen oder größere Fehler treten auf, wenn ein Zeuge, nachdem er ein Ereignis erlebt hat, einen Austausch mit anderen Quellen zum Thema hat. Zum Beispiel durch andere Zeugen oder dadurch, dass der Zeuge etwas in der Zeitung liest. Und diese fremden Erinnerungen dann in sein Gedächtnis einbaut und später davon überzeugt ist, dass es seine eigene Erinnerung ist. Und da können natürlich auch Fehler dabei sein. Die extremste Form von Gedächtnisfehlern ist eigentlich eine Erinnerung an ein Ereignis, das so komplett nie stattgefunden hat. Eine sogenannte Falsch-Erinnerung, bei der es dazu kommt, dass sich Menschen selbst oder auch durch andere etwas einreden oder einreden lassen, was tatsächlich so nie passiert ist.
Lokalzeit: Wie oft gehen Ermittlungsarbeiten aufgrund falscher Erinnerungen schief?
Oeberst: Dazu kann ich Ihnen leider keine verlässliche Zahl nennen, weil es solche Statistiken nicht gibt. Mir fällt ein Fall aus den USA ein: der Fall Jennifer Thompson. Hier war es tatsächlich so, dass sie sich falsch an ihren Vergewaltiger erinnert hat. Der wurde dann verurteilt, war eine ganze Zeit lang im Gefängnis - später ist durch DNA-Proben herausgekommen, dass er nicht der Täter war.
Angewandte Forschung in der Zeugenbefragung
Lokalzeit: Was rät die Forschung polizeilichen Ermittlern im Hinblick auf die Befragung von Zeugen in Kriminalfällen?
Oeberst: Es gibt natürlich eine Reihe von Interviewtechniken, die man nicht empfiehlt. Ich glaube, die Ermittler kennen die wahrscheinlich im besten Fall auch alle. Man sollte natürlich keinerlei Druck ausüben und die Leute nicht suggestiv befragen. Aber was tatsächlich nicht so bekannt ist: Es ist schon in dem Moment, in dem ich anfange, spezifische Fragen zu stellen so, dass die Leute das Gefühl haben, sie müssten auch eine spezifische Antwort geben. Und wenn ich nicht betone, dass sie auch wirklich sagen sollen, wenn sie etwas nicht wissen, neigen sie dazu, irgendeine Antwort zu geben - und deswegen gehen dann die Fehlerquoten schon deutlich eher hoch.
Lokalzeit: Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Oeberst: Zum Beispiel, wenn eine Person sagt: Der Täter war mittelgroß. Wenn dann jemand fragt, können Sie genau sagen, wie groß? Dann sagen die Leute zum Beispiel 1,75 Meter. Aber auf diese 1,75 Meter kann man wahrscheinlich nicht so richtig viel geben. Deswegen sollte man immer versuchen, Zeugen erstmal so offen wie möglich beschreiben und berichten zu lassen, und dann auch in der Dokumentation klar zu trennen: Ab wann habe ich angefangen konkret nachzufragen?
Anmerkung der Redaktion: Im Fall Claudia Wilbert stehen der Bonner Polizei noch einige Zeugenbefragungen bevor. Nach Abzug aller weniger brauchbaren Hinweise verfolgen die Ermittler zur Zeit noch etwa zehn Spuren.
Melden kann sich jeder bei der Cold-Case-Abteilung der Bonner Polizei unter der Telefonnummer 0228 – 15-0 oder der E-Mail-Adresse: KK11.Bonn@polizei.nrw.de.