Eine Frau bei der Arbeit am Computer.

Wie eine Autistin beim LKA gegen Kinderpornografie kämpft

Düsseldorf | Verbrechen

Stand: 19.09.2024, 07:35 Uhr

Samanta Kliner wertet beim Landeskriminalamt kinderpornografische Videos aus, um Kinder und Täter zu identifizieren. Sie ist Autistin mit Inselbegabung und hat ein fotografisches Gedächtnis. Wie sie damit sogar Computersysteme übertrifft.

Von Katrin Wrobel

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Ein Leben ohne Filter

Wenn Samanta Kliner zur Arbeit geht, versucht sie, sich von Lärmquellen und Menschenmengen fernzuhalten. Die Hauptstraße lässt die 44-Jährige schnell hinter sich. In ihren Händen dreht sie einen Zauberwürfel. Lange dauert es nicht, bis sie das Drehpuzzle gelöst hat und jede Seite nur noch eine Farbe hat.

Sich auf den Würfel zu konzentrieren, hilft Kliner, die vielen Reize in der Umgebung für sich erträglicher zu machen. Denn in Kliners Gehirn gibt es keinen Filter, der unwichtige Umweltreize von wichtigen unterscheidet und ausblendet. Geräusche nimmt sie alle gleich laut wahr.

Samanta Kliner über ihre Strategien für den Umgang mit Reizüberflutung

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Besser als die Computersysteme

Die ungefilterte Wahrnehmung von Reizen ist für Kliner im Alltag oft eine Herausforderung. Im Beruf, wo sie gegen Kinderpornografie kämpft, ist sie aber enorm hilfreich. Denn Kliner hat zusätzlich eine besondere Inselbegabung: Sie verfügt über ein fotografisches Gedächtnis.

"Jedes Bild, das ich gesehen habe, kann ich mir sehr gut und über einen sehr langen Zeitraum merken", sagt die 44-Jährige. Selbst kleinste Details kann sie sich einprägen und jederzeit wieder abrufen. Wenn sie beim Landeskriminalamt in Düsseldorf kinderpornografische Videos und Bilder auswertet, vergleicht sie diese im Kopf mit allen Bildern, die sie jemals gesehen hat. "Da erkenne ich relativ schnell zum Beispiel eine Socke in einem Video wieder oder weiß: Den Rucksack, den kennen wir schon, den habe ich schon einmal gesehen."

Samanta Kliner bei der Kaffeepause im LKA.

Das fotografische Gedächtnis hilft Samanta Kliner bei ihrer Arbeit

In NRW gab es 2023 laut der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) rund 10.700 Fälle von Kinderpornografie. Da in die Statistik nur Fälle eingehen, die angezeigt wurden, dürfte die Dunkelziffer wesentlich höher liegen. In mehr als der Hälfte der Fälle bestand laut BKA-Lagebericht eine Vorbeziehung, Täter und Opfer kannten sich also. Am häufigsten handelte es sich dabei um Freundschaften beziehungsweise Bekanntschaften, gefolgt von Verbindungen innerhalb der Familie.

Dahinter kommen sogenannte formelle soziale Beziehungen, wie Trainer und Schützling in einem Sportverein, Lehrer und Schüler in Musikschulen oder andere Beziehungen in Bildungs- und Freizeiteinrichtungen. Ein zunehmendes Problem sind Kinder, die entsprechendes Material per WhatsApp oder Snapchat austauschen. Knapp 1.500 der Tatverdächtigen in NRW waren laut PKS 2023 jünger als 14 Jahre. Auch das Thema KI-generierte Kinderpornografie stellt die Ermittler vor Herausforderungen.

LKA-Chef Ingo Wünsch sieht in Kliner eine enorme Bereicherung. "Sie bringt etwas mit, was keiner hier im LKA hat. Kein Polizist, keine Polizistin, einzigartig einfach. Das ist für uns mehr als ein Lottogewinn." Mit ihren Fähigkeiten übertreffe Kliner sogar die Technik. Die Genauigkeit, mit der sie Details von aktuellen Fällen mit Bildinformationen von Fällen aus lang zurückliegenden Zeiten verknüpft und zusammenbringt, habe kein Computer.

Schutzschild für die Seele

Hilfreich für ihre Arbeit ist aber nicht nur Kliners besonderes Bildgedächtnis. Der Autismus schützt sie auch vor seelischen Schäden durch das Anschauen von Kinderpornografie. Zwar kann die 44-jährige Mutter gut mit Menschen mitfühlen, wenn sie mit ihr über ihre Gefühle sprechen. Emotionen nonverbal zu erkennen, fällt ihr aber schwer. "Wenn jemand lacht, ist es mir nicht möglich zu verstehen, dass er glücklich ist. Wenn jemand Tränen vergießt, bedeutet das für mich nicht unbedingt, dass er traurig ist. Das hilft mir bei meiner Arbeit sehr, weil ich mir dann natürlich auch Missbrauchsabbildungen angucken kann, ohne emotional zu sehr mitgenommen zu werden."

Um gut arbeiten zu können, hat Kliner ihr Büro besonders reizarm gestaltet. Keine Pflanzen, keine bunten Bilder. Nichts, was ihre Konzentration stören würde. Nur weiße Leinwände hängen zur Schalldämpfung an den Wänden. Damit es im Raum möglichst wenig hallt, hat sie sich extra ein kleineres Büro geben lassen. "Da waren meine Chefs erstmal etwas verdutzt. Nach einem kleineren statt größeren Büro hat hier noch keiner gefragt", sagt sie.

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Diagnose Autismus

Auch von Kollegen erfährt Kliner viel Anerkennung. In den Pausen zieht sie sich teilweise aber lieber zurück, zum Beispiel an einen etwas ruhigeren Platz vor dem Gebäude. "Ich mag Smalltalk nicht so gerne, weil es mich ziemlich schnell überlastet und ich immer darüber nachdenken muss, was ich antworte", sagt sie. Stattdessen puzzelt sie in ihrer Pause, um all die Bilder und Umweltreize auszublenden. Am liebsten einfarbige Puzzles mit vielen Teilen.

Samanta Kliner sitzt am Tisch und macht ein Puzzle.

1000 Puzzleteile am Tag sind für Samanta Kliner kein Problem

Dass sie in vielerlei Hinsicht anders ist als andere, hat Kliner schon in ihrer Kindheit gemerkt. "Ich habe immer gedacht, mit mir stimmt irgendetwas nicht", sagt Kliner. Als Kind wurde sie ausgegrenzt und gemobbt. "Kinder wollten nicht mit mir spielen, sie kamen nicht auf meinen Geburtstag. Ich war immer alleine unterwegs, hatte keine Freunde." Auf der anderen Seite sei sie selbst oft auch lieber alleine gewesen.

Als junge Erwachsene steckt sich Kliner dann ein ambitioniertes Ziel: Sie will Wikipedia von A bis Z durchlesen. Sie kommt nur bis Au, bis zum Artikel über Autismus. Hier stockt sie. Und erkennt sich wieder. Sie ist 26, als sie schließlich die Diagnose Autismus bekommt. Endlich fühlt sie sich verstanden.

Samanta Kliner über ihre Erleichterung nach der Diagnose Autismus

00:27 Min. Verfügbar bis 19.09.2026

Dass Autismus erst spät erkannt wird, ist keine Seltenheit. Weil es so viele unterschiedliche Ausprägungen gibt, spricht man auch vom Autismus-Spektrum. Viele nehmen wie Kliner Reize ungefiltert wahr oder haben Schwierigkeiten, Emotionen zu erkennen. Typisch für Autismus sind auch die Vermeidung von Körperkontakt, Probleme beim Aufbau von Beziehungen oder eine starke Orientierung an Regeln. Jeder Mensch mit Autismus weist dabei ganz verschiedene und unterschiedlich stark ausgeprägte Symptome und Begabungen auf.

Wie viele Menschen mit Autismus in NRW oder Deutschland leben, darüber gibt es keine verlässlichen Angaben. Laut Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus liegt die Zahl bei etwa sechs bis sieben je 1000 Personen. Der Verband bezieht sich dabei allerdings auf Studien aus den USA und Europa. Auf NRW und seine fast 18 Millionen Einwohner gerechnet wären das etwa 110.000 Menschen.

Einsatz für Kinder mit Autismus

Seit ihrer Diagnose hat sich Kliner viel mit Autismus beschäftigt. Damit anderen Kindern schneller geholfen werden kann als ihr, berät sie Schulbegleiter autistischer Kinder.

Auch beruflich möchte sich Kliner mit ihren besonderen Fähigkeiten einbringen. "Als dann klar war, dass ich so ein wahnsinniges Gedächtnis habe, habe ich immer gedacht: Irgendwas muss man damit doch anfangen können. Irgendwie muss man doch damit etwas für die Gesellschaft leisten können." Sie stößt auf eine Stellenausschreibung des Landeskriminalamts und bewirbt sich. "Seit ich diesen Job habe, fühle ich mich nicht mehr so, als wäre ich das Problem, sondern als wäre ich ein Teil der Lösung", sagt Kliner.

Für ihren Einsatz im Beruf ist sie 2023 vom Sozialverband VDK mit einem Preis für herausragende Teilhabe am Arbeitsleben ausgezeichnet worden.

Über dieses Thema haben wir auch am 06.08.2024 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit aus Düsseldorf, 19.30 Uhr.