Der weiße Riese
Er stand hier schon mal. Damals. An diesem Tag vor dreißig Jahren, den er nie vergessen wird. Als für ihn, den jungen britischen Soldaten, ein neues Leben begann. Er war ein blutiger Rekrut, ein Greenhorn, schnurstracks abkommandiert aus der militärischen Grundausbildung in den ersten Auslandseinsatz. Genau wie heute lief er durch das eiserne Eingangstor, vorbei an Wachstube und Truppenküche, um hier zu landen. Gedankenverloren blickt Lee Gobie auf Block 8 der Hammersmith-Kaserne. Wie ein Ungetüm streckt sich der kalkweiße Bau vor ihm dem ostwestfälischen Himmel entgegen. Hunderte von Nächten hat der 50-Jährige hier verbracht, in schlecht belüfteten Räumen, zu zweit oder zu dritt, wie alle anderen Soldaten der Rheinarmee. Sechs Jahre seines Lebens hinter diesen Mauern. Mauern, die seit dem Abzug der letzten britischen Truppen im Jahr 2015 niemand mehr von innen gesehen hat. Mauern, von denen niemand weiß, welche Geheimnisse sie noch bereithalten.
Bis heute. Denn Gobie ist nicht ohne Grund zurück. Er wird der Erste sein, der nach fast einem Jahrzehnt wieder einen Fuß in Block 8 setzen wird, um sich auf die Suche nach seinem alten Zimmer zu machen. Um nachzusehen, ob noch mehr übrig ist als die eigenen Erinnerungen. Langsam, bedächtig fast, bewegt sich der Engländer auf die hölzerne Eingangstür zu. Eine Schlüsselumdrehung nur, dann tritt er ein. In das Treppenhaus. Und in die eigene Vergangenheit.
Eine Kaserne, zwei Nationen
An einem Frühlingstag endet in der Hansestadt die nationalsozialistische Herrschaft. Schnell machen die Briten die Stadt zu einem Stützpunkt in ihrer neu geschaffenen Besatzungszone. Aus gutem Grund, denn in Herford können die Briten auf bereits vorhandene Militärinfrastruktur zurückgreifen. Elf Jahre zuvor, kurz nach Hitlers Machtergreifung, hatten die Nazis auf dem Herforder Stiftberg mit dem Bau von drei großen Kasernenanlagen begonnen: Eine davon ist die Estorff-Kaserne, die die Briten später in die "Hammersmith Barracks" umbenennen.
Das Verhältnis zwischen Besatzern und Besiegten ist in Herford nicht immer einfach. Die Stadtbevölkerung braucht ein bisschen, um mit den "Tommys" oben auf dem Berg warmzuwerden. Da ist die Sprachbarriere, die die Kommunikation erschwert. Da sind die Panzer, die in der Hammersmith-Kaserne gelagert werden und ständig durch die Herforder Straßen heizen. Und auch die Abgeschiedenheit, in die sich die Briten auf dem Stiftberg freiwillig begeben, macht die Herforder misstrauisch. Erst gegen Ende der 1970er Jahre bessert sich das deutsch-britische Verhältnis. Zu Hochzeiten des kalten Krieges sind in der Stadt mehrere tausend Briten stationiert - beide Seiten müssen sich arrangieren. Im Dezember 2015 ist dann alles vorbei. Das ehemalige "Empire", tief gespalten durch die "Brexit"-Diskussionen, will sich teure Überseestützpunkte wie in Herford nicht mehr leisten. Die letzten britischen Soldaten ziehen ab. Und die Hammersmith-Kaserne wird zu einem verlorenen Ort.
Eine Reise in die eigene Vergangenheit
Ein paar Stunden vor seinem großen Augenblick. Gobie steht inmitten der Überreste der alten Turnhalle. Hier, wo der 50-Jährige früher Fußball und Squash spielte, ist dieser verlorene Ort am verlorensten. Die Eingangstür ist zu beiden Seiten von dichtem Gestrüpp überwuchert, die Fensterscheiben der Turnhalle liegen in Scherben auf dem geschundenen Holzparkett. Ansonsten ist das Gebäude, wie alles auf dem Gelände, vollständig entkernt. Gobies Landleute haben bei ihrem Abzug nichts dem Zufall überlassen. Jeden Stuhl, auf dem sich noch sitzen, und jedes Rohr, das sich von der Wand schrauben ließ, verfrachteten sie in Kisten und verschifften es über den Ärmelkanal. Bis auf den grünen Ball da vorne. Zerfleddert, die Außenhaut aufgerissen, liegt er auf dem Boden. Das einzige Relikt in einem geplünderten Raum. Anklagend, als verstünde er nicht, warum die Briten ausgerechnet ihn hier zurückließen.
Die Zurückgelassenen
Auch Gobie ist immer noch da. Er kauft sich in Herford ein Haus, heiratet, bekommt eine Tochter. Zwar habe er noch Verwandte in London, erzählt Gobie, während er den von Unkraut überwucherten ehemaligen Exerzierplatz überblickt. Zurück wolle er aber nicht: "Es gibt nichts mehr, was mich dort hält. Meine Heimat ist hier." In Gedanken versunken streift der 50-Jährige über die Pflasterstraßen, die sich wie ein Spinnennetz über das Gelände der alten Kaserne ziehen. Vorbei an den Panzerhallen, am ehemaligen Flaggenmast, wo früher wie selbstverständlich der "Union Jack" hing. Vorbei an der alten Kirche, einem umgebauten Pferdestall, in dem die Briten anglikanischen Gottesdienst feierten. Vor Block 8 bleibt er stehen.
Es ist das rätselhafteste Gebäude der alten Kaserne. Selbst die SEH, die Stadtentwicklungsgesellschaft der Stadt Herford, die das Areal verwaltet und irgendwann mal in ein modernes Wohngebiet umformen will, hat seit dem Rückzug der Briten vor neun Jahren nicht hereingeschaut. Und Gobie hat Glück. Unverschämtes Glück. Er soll die Schlüssel bekommen, um in seinem alten Quartier eigenständig auf Spurensuche zu gehen. Ob er darauf Lust habe? Natürlich hat er das.
Auf Spurensuche
In den Fluren von Block 8 ist es dunkel. Stockdunkel. Langsam tastet sich Gobie vor in das bekannte Unbekannte. Gobie schaltet die Handytaschenlampe an. Nur mühsam legt das funzlige Licht die Nummern der alten Mannschaftsunterkünfte frei. Sie steigen auf. 111. 112. 113. Gobies Schritte werden langsamer. Er scheint das gefunden zu haben, was er gesucht hat. Er drückt die Klinke herunter - und steht in einem völlig kahlen Raum. Sein altes Zimmer. Die Briten haben hier einen genauso gründlichen Job gemacht wie an allen anderen Orten auf dem Gelände. Nur die lavendelfarbene Pinnwand haben sie Gobie gelassen. Hier hingen früher seine Familienfotos. Der 50-Jährige wirkt enttäuscht: "Ich habe wirklich gedacht, dass noch etwas übrig ist von früher. Aber da ist nichts mehr. Gar nichts mehr."
Gobie will weg. Weg von diesem Ort, der seine eigene Geschichte getilgt hat. Doch im Treppenhaus überlegt er es sich noch einmal anders. Er könnte rausgehen, auf die Straße. Stattdessen steigt er nach oben. Bis unter das Dach. Und tatsächlich: Die alte Kneipe, die sich hier einst befand, hat den Abzug der ehemaligen Hausherren überlebt. Ein paar Kabel ragen aus der Decke und an einigen Stellen bröckelt die Holzvertäfelung. Doch um hier und jetzt ein Bier zu zapfen, würde sie wohl noch genügen. Gobie hat sich hinter der Theke positioniert. Wie damals, in dieser längst vergangenen Zeit, als er an guten Abenden den Barkeeper gegeben hat. Einen "Magic Moment" nennt er das mit einem Leuchten in den Augen. Gobies Reise hat sich gelohnt.
Über dieses Thema haben wir auch am 27.06.2024 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.