Es wirkt wie der normale Alltag einer jungen Familie. Jonathan Dertenkötter, in Radfahrkleidung, sitzt fest im Sattel seines Rennrads, das in eine Trainingsmaschine eingespannt ist. Sein Wohnzimmer ist sein Trainingsraum, sein Fernseher zeigt die virtuelle Strecke. Vor kurzem trug er noch das schwarze T-Shirt seiner eigenen Firma. Im Nebenzimmer spielt seine Frau Marina mit ihrem zehn Monate alten Sohn Anton. Familie, Sport, Beruf - Dertenkötter hat für alles gekämpft. Vor vier Jahren änderte sich sein Leben schlagartig.
Es geschah im Sekundenbruchteil. 2019 studierte Dertenkötter Elektrotechnik an der Hochschule Bielefeld und fuhr Rennen in ganz Europa, 60 im Jahr, trainierte 20 Stunden in der Woche. Auch Klettern wurde zur Leidenschaft, gemeinsam mit seiner Jugendliebe Marina. Dertenkötter war ehrgeizig, erfolgshungrig. Dann, kurz vor Ostern, stürzte er vor den Augen seiner Freundin in einer Bielefelder Kletterhalle zehn Meter tief.
Gütersloh: Ein junger Mann kämpft sich zurück
Zurück ins Jahr 2023. Kurze Zeit nach seinem Radtraining setzt Dertenkötter mit Gehstützen in den Händen in seinem Haus in Gütersloh etwas ungelenk aber zügig einen Fuß vor den anderen. An beiden Unterschenkeln trägt er Orthesen, die seine Bewegungen unterstützen. "Die sind seit damals taub geblieben", erklärt er.
Beim Aufprall aus zehn Metern hatte sich der 28-Jährige am Rückenmark verletzt. Die Ärzte diagnostizierten ihm nach seinem Sturz eine inkomplette Querschnittlähmung und prophezeiten dem Sportler ein Leben im Rollstuhl. Doch der Student wollte sich damit nicht abfinden. Nach zwei Wochen im Krankenhaus kam er in ein spezielles Querschnittzentrum, setzte sich täglich neue Ziele, lernte weiter für sein Studium und trainierte eisern, um wieder auf die Beine zukommen.
Bergsteiger mit Krücken
"Es dauert, bis man realisiert, was das für unser weiteres Leben bedeutet. Ich glaube, ich hatte mehr daran zu knabbern als er", erinnert sich Marina Dertenkötter. Drei Monate nach dem Unfall heirateten sie. Die 28-Jährige unterstützt ihren Partner im Alltag, wo sie nur kann und ist beeindruckt, wie er mit seiner schweren Verletzung umgeht. "Er weinte damals einmal kurz, das war’s. Jonathan hat immer nach vorne geblickt und nie zurück."
Nach nur vier Monaten kletterte Dertenkötter mit Krücken auf Berge. 2021 nahm Dertenkötter an der EM im Para-Cycling teil, holte in diesem Jahr mit dem deutschen Team beim Weltcup im Behinderten-Radrennen Gold. "So viel Zeit wie früher habe ich allerdings nicht mehr, um zu trainieren", erklärt Dertenkötter. Neben Sohn Anton hält ihn seine Firma auf Trapp. Im vergangenen Herbst gründete der Elektroingenieur nach dem Studium ein Start-Up. "Meine Familie ist mein Dreh-und Angelpunkt. Da nehme ich meine Energie her", sagt Dertenkötter.
Beruflich ist er viel unterwegs, pendelt zwischen Ostwestfalen Lippe und Thüringen. Seine Solaranlagen mit speziellen Energiesystemen sind gefragt. Solarpanels schleppen, das muss der Chef seinen drei Mitarbeitern überlassen - ansonsten schont er sich auf Baustellen selten, schleppt sich mit Krücken Treppenstufen rauf und runter, kraxelt auch mal auf einen Dachstuhl, wenn’s sein muss. "Es ist schon ein Drahtseilakt, das ist mir bewusst. Wenn ich stürze, könnte das bedeuten, dass ich für immer im Rollstuhl sitze", sagt Dertenkötter. Seine Frau macht sich Sorgen. Aber der 28-Jährige will jeden Moment voll auskosten - im Job, mit seiner Familie und auf dem Rad.
Über dieses Thema berichteten wir auch im WDR Fernsehen am 30.08.2023: Lokalzeit aus Ostwestfalen-Lippe, 19.30 Uhr.