Ein Mann steht leicht gebeugt vor einem Hauseingang. Neben ihm steht eine Frau.

Wenn das Jobcenter an der Tür klopft

Paderborn | Unterwegs

Stand: 22.08.2024, 07:21 Uhr

Sie sind die letzte Waffe im Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit. Ihr Einsatz beginnt, wenn das Jobcenter nicht mehr weiter weiß. Ihr Auftrag: Langzeitarbeitslose kontaktieren, die keinen Kontakt wollen.

Von Luca Peters

Ein unscheinbares Büro am Ende einer unscheinbaren Straße in einem menschenleeren Industriegebiet. Ein passendes Ensemble für einen undankbaren Job, von dem kaum einer weiß, dass er überhaupt existiert. Gebeugt sitzen Gina Fahle und Pascal Rewerts über einer ausgedruckten Google-Maps-Karte. Das einzige Werkzeug, das sie heute brauchen werden.

Zwölf Adressen sind darauf verzeichnet. Zwölf Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten, die sie bislang nur als Nummer im System kennen. Zwölf Türen, an die sie heute klopfen werden. Ob sich ihnen überhaupt eine öffnen wird? Beide wissen es nicht. Die Chancen stünden immer eins zu fünf gegen sie, meint Rewerts.

Oftmals erreicht Pascal Rewerts telefonisch niemanden

00:53 Min. Verfügbar bis 22.08.2026

Der 32-Jährige ist der Erfahrene der beiden "aufsuchenden Berater", seine Kollegin Fahle, 38, ist erst seit kurzem an seiner Seite. Der Sozialpädagoge sieht nicht so aus, wie man sich jemanden vorstellt, der gleich im Auftrag des Jobcenters Bürgergeldempfänger zur Rede stellen wird. Mit seinem Polohemd und seinen weißen Turnschuhen könnte er auch genauso gut Wertanlagen verkaufen oder in einer Sylter Eisdiele sitzen.

Kein Anschluss unter dieser Nummer

Entschlossen greift Rewerts zum Telefonhörer. Einen letzten Anruf will er noch machen, bevor es losgeht. Einer der vielen Nummern im System ein Stück Persönlichkeit geben. Vorfühlen, ob sie die Fahrt heute vielleicht nicht ganz umsonst machen werden. Lange muss Rewerts nicht warten. Doch es ist kein Arbeitsloser, der da am anderen Ende der Leitung antwortet.

"Kein Anschluss unter dieser Nummer", tönt es Rewerts blechern entgegen. Egal, meint er. So sei das eben häufiger, wenn Menschen nicht gefunden werden wollten, um sich vor nervigen Staubsaugervertretern zu schützen. Und das seien sie nun mal, grinst Rewerts verschmitzt. Staubsaugervertreter von Amts wegen. Seelenruhig lässt er den Hörer auf die Gabel fallen. Dann machen sich die "aufsuchenden Berater" auf den Weg.

Unterwegs am Rande der Gesellschaft

Langzeitarbeitslosigkeit ist in Deutschland ein Problem. Alleine in Nordrhein-Westfalen sind fast 300.000 Menschen seit über einem Jahr ohne Job. Manchen fehlt die Qualifikation, anderen die Perspektive und wieder andere pflegen Angehörige zuhause. Und dann gibt es noch diejenigen, bei denen niemand genau weiß, warum sie eigentlich nicht arbeiten.

Für sie gibt es seit der Corona-Pandemie die "aufsuchenden Berater", in über dreißig Kommunen in ganz NRW. 4,5 Millionen Euro aus Mitteln eines EU-Sozialfonds hat das Land Nordrhein-Westfalen dafür zur Verfügung gestellt. Die aufsuchende Beratung ist Teil des 30 Millionen Euro schweren Projekts "Wiedereinstieg" aus dem Jahr 2022, mit dem Langzeitarbeitslose bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützt werden sollen.

Zwei Personen, die Dokumente in den Händen halten.

Pascal Rewerts und Gina Fahle sind für die "aufsuchende Beratung" im Einsatz

Manchmal kommt das Jobcenter selbst zur Tür, andernorts, wie zum Beispiel in Paderborn, wird die Aufgabe an spezielle Bildungseinrichtungen ausgelagert. Auf die stereotypischen "Arbeitsverweigerer" treffen die "aufsuchenden Berater" allerdings selten. Sie sind nicht nur die "Beinemacher" des Staates, sondern auch Lebenscoaches und Psychologen für Menschen, die sich im Stich gelassen fühlen oder sich von der Gesellschaft abgewandt haben.

Ihre Stärke: eine gesunde Portion Zweckoptimismus. Vielleicht wird es nicht einer der Klienten der "aufsuchenden Berater" zurück auf den Arbeitsmarkt schaffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand von ihnen überhaupt zu einem ersten Beratungstermin aufrafft, liegt bei knapp zehn Prozent. Rewerts und Fahle wissen das genau. Und doch tun sie ihren Job.

Von Haustür zu Haustür

Ihre Route führt die Hüter des ostwestfälischen Arbeitseinsatzes einmal quer durch das Paderborner Land zu einem Wohnviertel in Bad Lippspringe. Mittlerweile kommt der Regen von vorne. Rewerts zieht den Regenschirm tief ins Gesicht. Gar kein schlechtes Omen, findet er. Immerhin eine höhere Chance, seine Klienten auch zuhause anzutreffen. Wenn sie denn aufmachen.

Herr M., der hier laut Google-Maps-Karte wohnen soll, tut es nicht. Nicht beim ersten Klingeln. Und auch nicht beim Zweiten. Nichts zu machen. Rewerts steckt den Brief, den er eigentlich persönlich übergeben wollte, durch den Haustürschlitz. Herr M. möge doch gerne mal zu einem Termin in das Paderborner Büro kommen oder wenigstens mal zurückrufen, steht darauf. Alles möglichst freundlich, möglichst unverbindlich formuliert. Verbindung aufbauen, nennt Rewerts das.

Zwei Personen sind über eine Liste gebeugt.

Gina Fahle und Pascal Rewerts müssen teilweise Detektivarbeit leisten

Dabei täten die Arbeitslose wie Herr M. gut daran, sich von selbst mit den "aufsuchenden Beratern" in Verbindung zu setzen. Denn seit einer Gesetzesreform im März kann kooperationsunwilligen Bürgergeldempfängern bis zu zwei Monate in Folge das Geld gestrichen werden. Und die Berichte, die "aufsuchende Berater" wie Rewerts und Fahle an das Jobcenter weiterleiten, können bei der Entscheidung von maßgeblicher Bedeutung sein.

Die Abgewiesenen

Je länger die Odyssee der Sozialpädagogen dauert, desto auswegloser erscheint ihr Anliegen. Denn weiter als bis zur Haustür kommen die beiden selten. Manchmal noch nicht mal das. Ohne Klingelschild müssen auch Rewerts und Fahle kapitulieren. Elf Türen. Und neun davon bleiben zu.

Eigentlich Grund genug, die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit infrage zu stellen. Wie reden mit jemandem, der nicht mit sich reden lassen möchte?  Der Sozialpädagoge sieht es pädagogisch: "Manche haben nicht das Gefühl dafür, dass es wichtig ist, dass der Name auf dem Klingelschild steht oder sie sind gerade frisch eingezogen. Wir müssen mal beraten, wie wir weitermachen wollen", sagt Rewerts. Frustrationstoleranz ist seine Kernkompetenz. Jeder noch so kleine Schritt, ein Schritt nach vorne. Und außerdem: Ein Name steht ja noch auf der Liste.

Der Langzeitarbeitslose unter wilden Tieren

Die Wege des Jobcenters scheinen unergründlich. Unter der letzten Adresse verbirgt sich ein Tierpark im Delbrücker Ortsteil Schöning. Irgendwo zwischen Raubkatzen und Flamingos soll hier ein Langzeitarbeitsloser leben. Doch wo genau, scheint unklar. Wo steckt Herr B.?

Verloren stapfen Rewerts und Fahle vorbei am Tigergehege. Schließlich bringt der Parkbesitzer Aufklärung. Es gäbe da einen Campingplatz, da könnte er sein, meint er. Und tatsächlich. Mit orangenem T-Shirt, Jogginghose und mitteldeutschem Akzent fängt B. die "aufsuchenden Berater" am eigenen Gartenzaun ab. Auch mit dem WDR möchte er sprechen.

Nach langem Suchen findet das Team Herrn B.

00:37 Min. Verfügbar bis 22.08.2026

Früher sei er einmal Lkw gefahren, erzählt er, seine große Leidenschaft. Und noch viel früher habe er wegen Republikflucht im DDR-Knast gesessen. Der Campingplatz im Tierpark ist für ihn die Endstation. Hier habe er seine Ruhe, erzählt Herr B. Und mittlerweile mache auch der Rücken nicht mehr mit. Artig nimmt er den Brief von Rewerts entgegen. Er sei froh, dass ihm endlich jemand helfen wolle, meint der Herr um die sechzig.

Ob er in der nächsten Woche in die Sprechstunde der Sozialpädagogen komme? Natürlich, verspricht er hoch und heilig. So kann er also aussehen. Der "maximale Erfolg". Mehr ist heute nicht drin für die "aufsuchenden Berater". Ob Herr B. wirklich aufkreuzen wird? Rewerts und Fahle zucken mit den Schultern. Sie wissen es nicht. Niemand kann das wissen. Auf den schlammigen Pfaden des Zoos machen sie sich auf den Weg zum Ausgang. Die "aufsuchenden Berater" haben Feierabend.

Über dieses Thema haben wir am 25.04.2024 auch im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.