Ein unscheinbares Büro am Ende einer unscheinbaren Straße in einem menschenleeren Industriegebiet. Ein passendes Ensemble für einen undankbaren Job, von dem kaum einer weiß, dass er überhaupt existiert. Gebeugt sitzt Pascal Rewerts mit einer Kollegin über einer ausgedruckten Google-Maps-Karte. Sie ist das einzige Werkzeug, das sie heute brauchen werden.
Zwölf Adressen sind darauf verzeichnet. Zwölf Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten, die sie bislang nur als Nummer im System kennen. Zwölf Türen, an die sie heute klopfen werden. Ob sich ihnen überhaupt eine öffnen wird? Beide wissen es nicht. Die Chancen stünden immer eins zu fünf gegen sie, meint Rewerts.
Der 32-Jährige ist der Erfahrene der beiden "aufsuchenden Berater", seine 38-jährige Kollegin, die nicht namentlich genannt werden möchte, ist erst seit kurzem an seiner Seite. Der Sozialpädagoge trägt Polohemd und weiße Turnschuhe.
Kein Anschluss unter dieser Nummer
Entschlossen greift Rewerts zum Telefonhörer. Einen letzten Anruf will er noch machen, bevor es losgeht. Einer der vielen Nummern im System ein Stück Persönlichkeit geben. Vorfühlen, ob sie die Fahrt heute vielleicht nicht ganz umsonst machen werden. Lange muss Rewerts nicht warten. Doch es ist kein Arbeitsloser, der da am anderen Ende der Leitung antwortet.
"Kein Anschluss unter dieser Nummer", tönt es Rewerts blechern entgegen. Egal, meint er. So sei das eben häufiger, wenn Menschen nicht gefunden werden wollten, um sich vor nervigen Staubsaugervertretern zu schützen. Und das seien sie nun mal, grinst Rewerts verschmitzt. Staubsaugervertreter von Amts wegen. Seelenruhig lässt er den Hörer auf die Gabel fallen. Dann machen sich die "aufsuchenden Berater" auf den Weg.
Unterwegs am Rande der Gesellschaft
Langzeitarbeitslosigkeit ist in Deutschland ein Problem. Alleine in Nordrhein-Westfalen sind fast 300.000 Menschen seit über einem Jahr ohne Job. Manchen fehlt die Qualifikation, anderen die Perspektive und wieder andere pflegen Angehörige zuhause. Und dann gibt es noch diejenigen, bei denen niemand genau weiß, warum sie eigentlich nicht arbeiten.
Für sie gibt es seit der Corona-Pandemie die "aufsuchenden Berater", in über dreißig Kommunen in ganz NRW. 4,5 Millionen Euro aus Mitteln eines EU-Sozialfonds hat das Land Nordrhein-Westfalen dafür zur Verfügung gestellt. Die aufsuchende Beratung ist Teil des 30 Millionen Euro schweren Projekts "Wiedereinstieg" aus dem Jahr 2022, mit dem Langzeitarbeitslose bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützt werden sollen.
Manchmal kommt das Jobcenter selbst zur Tür, andernorts, wie zum Beispiel in Paderborn, wird die Aufgabe an spezielle Bildungseinrichtungen ausgelagert. Auf die stereotypischen "Arbeitsverweigerer" treffen die "aufsuchenden Berater" allerdings selten. Sie sind nicht nur die "Beinemacher" des Staates, sondern auch Lebenscoaches und Psychologen für Menschen, die sich im Stich gelassen fühlen oder sich von der Gesellschaft abgewandt haben.
Ihre Stärke: eine gesunde Portion Zweckoptimismus. Vielleicht wird es nicht einer der Klienten der "aufsuchenden Berater" zurück auf den Arbeitsmarkt schaffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand von ihnen überhaupt zu einem ersten Beratungstermin aufrafft, liegt bei knapp zehn Prozent. Rewerts und seine Kollegin wissen das genau. Und doch tun sie ihren Job.
Von Haustür zu Haustür
Ihre Route führt die Hüter des ostwestfälischen Arbeitseinsatzes einmal quer durch das Paderborner Land zu einem Wohnviertel in Bad Lippspringe. Mittlerweile kommt der Regen von vorne. Pascal Rewerts zieht den Regenschirm tief ins Gesicht. Gar kein schlechtes Omen, findet er. Immerhin eine höhere Chance, seine Klienten auch zuhause anzutreffen. Wenn sie denn aufmachen.
Herr M., der hier laut Google-Maps-Karte wohnen soll, tut es nicht. Nicht beim ersten Klingeln. Und auch nicht beim Zweiten. Nichts zu machen. Rewerts steckt den Brief, den er eigentlich persönlich übergeben wollte, durch den Haustürschlitz. Herr M. möge doch gerne mal zu einem Termin in das Paderborner Büro kommen oder wenigstens mal zurückrufen, steht darauf. Alles möglichst freundlich, möglichst unverbindlich formuliert. Verbindung aufbauen, nennt Rewerts das.
Dabei läge es für Arbeitslose wie Herrn M. auch im eigenen Interesse, sich mit den "aufsuchenden Beratern" in Verbindung zu setzen. Denn seit einer Gesetzesreform im März kann kooperationsunwilligen Bürgergeldempfängern bis zu zwei Monate in Folge das Geld gestrichen werden. Und die Berichte, die "aufsuchende Berater" wie Rewerts und seine Kollegin an das Jobcenter weiterleiten, können bei der Entscheidung von maßgeblicher Bedeutung sein.
Die Abgewiesenen
Je länger die Odyssee der Sozialpädagogen dauert, desto auswegloser erscheint ihr Anliegen. Denn weiter als bis zur Haustür kommen die beiden selten. Manchmal noch nicht mal das. Ohne Klingelschild müssen auch die aufsuchenden Berater kapitulieren. Elf Türen. Und neun davon bleiben zu.
Eigentlich Grund genug, die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit infrage zu stellen. Wie reden mit jemandem, der nicht mit sich reden lassen möchte? Der Sozialpädagoge sieht es pädagogisch: "Manche haben nicht das Gefühl dafür, dass es wichtig ist, dass der Name auf dem Klingelschild steht oder sie sind gerade frisch eingezogen. Wir müssen mal beraten, wie wir weitermachen wollen", sagt Pascal Rewerts. Frustrationstoleranz ist seine Kernkompetenz. Jeder noch so kleine Schritt, ein Schritt nach vorne. Und außerdem: Ein Name steht ja noch auf der Liste.
Der Langzeitarbeitslose unter wilden Tieren
Die Wege des Jobcenters scheinen unergründlich. Unter der letzten Adresse verbirgt sich ein Tierpark im Delbrücker Ortsteil Schöning. Irgendwo zwischen Raubkatzen und Flamingos soll hier ein Langzeitarbeitsloser leben. Doch wo genau, scheint unklar. Wo steckt Herr B.?
Verloren stapfen Rewerts und seine Kollegin vorbei am Tigergehege. Schließlich bringt der Parkbesitzer Aufklärung. Es gäbe da einen Campingplatz, da könnte er sein, meint er. Und tatsächlich. Mit orangenem T-Shirt, Jogginghose und mitteldeutschem Akzent fängt B. die "aufsuchenden Berater" am eigenen Gartenzaun ab. Auch mit dem WDR möchte er sprechen.
Früher sei er einmal Lkw gefahren, erzählt er, seine große Leidenschaft. Und noch viel früher habe er wegen Republikflucht im DDR-Knast gesessen. Der Campingplatz im Tierpark ist für ihn die Endstation. Hier habe er seine Ruhe, erzählt Herr B. Und mittlerweile mache auch der Rücken nicht mehr mit. Artig nimmt er den Brief von Pascal Rewerts entgegen. Er sei froh, dass ihm endlich jemand helfen wolle, meint der Herr um die 60.
Ob er in der nächsten Woche in die Sprechstunde der Sozialpädagogen komme? Natürlich, verspricht er hoch und heilig. So kann er also aussehen. Der "maximale Erfolg". Mehr ist heute nicht drin für die "aufsuchenden Berater". Ob Herr B. wirklich aufkreuzen wird? Rewerts zuckt mit den Schultern. Er weiß es nicht. Niemand kann das wissen. Auf den schlammigen Pfaden des Zoos machen er und seine Kollegin sich auf den Weg zum Ausgang. Die "aufsuchenden Berater" haben Feierabend.
Über dieses Thema haben wir am 25.04.2024 auch im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.