Tulpen am laufenden Band
Chefin Susanne Degenhardt steht im unendlichen Grün. Die Rolltische, auf denen dicht beieinander Tulpen stehen, reichen der großen, schlanken Frau bis zu den Hüften. "Noch zwei Tage, dann ist hier alles weg", sagt sie und sieht sich im Gewächshaus um. "Zwei Millionen Tulpen sind dann raus." Der Nachschub wartet bereits. Es gibt ein rollierendes System von der Zwiebel bis zur erntefähigen Tulpe, die so gerade die Farbe der Blüte erahnen lässt. Die volle Pracht soll schließlich erst beim Kunden aufblühen.
Draußen auf dem Hof in Neuss-Gruissem warten am Mittag die letzten Lastwagen darauf, beladen zu werden, um die Supermärkte in der Region zu beliefern. "Das Geschäft beginnt immer früher", sagt Christoph Händle mit Blick auf den Kalender. Er ist Geschäftsführer und Ehemann von Susanne Degenhardt. Schon vor Weihnachten sind die ersten Tulpen gefragt. "Nach Neujahr geht es so richtig los."
Das Geheimnis der pünktlichen Blüte
Laut Zentralverband Gartenbau war die Tulpe nach der Rose 2022 die zweitbeliebteste Schnittblume in Deutschland. Für viele ist die Tulpe auch ein Frühlingsbote, die farbenfrohe Inkarnation länger werdender Tage und höherer Temperaturen. Stehen die Felder im Frühjahr kilometerweit in bunter Pracht, ist das bei Degenhardt aber nur ein kurzes Vergnügen. Die Tulpen werden nach ein paar Tagen geköpft. Doch warum überhaupt?
Nahezu der gesamte Tulpen-Absatz findet zwischen Neujahr und Muttertag statt. Deswegen hat Händle genau geplant, was er wann liefern kann. Unter dem Mikroskop kann er im Querschnitt der Blumenzwiebel schon im Herbst erkennen, ob und wann die Tulpe blühen wird. Direkt nachdem sie die Zwiebeln im Spätsommer auf ihren Feldern gerodet haben, kommen sie bei unter neun Grad ins Kühlhaus. Um zu wachsen, brauchen Tulpen eine Kälteperiode. "Wir spielen ihnen den Winter vor, damit sie auch pünktlich blühen“, erklärt der studierte Gartenbauer und greift mit der Hand in eine der großen Holzkisten.
Am unteren Rand der Knolle ist deutlich ein Wurzelkranz erkennbar. Sicheres Zeichen dafür, dass die Exemplare nach gut sechs Monaten Lagerzeit ins Warme wollen. Etwa 30 000 Zwiebeln fasst die Holzbox vom Ausmaß eines Hobby-Hochbeetes. "Pro Tag brauchen wir dreieinhalb bis vier Kisten", sagt Händle.
In der Halle vor dem Gewächshaus lädt ein Gabelstapler die Kiste auf eine Hebebühne. Aus etwa drei Meter Höhe kullern die Zwiebeln vorsichtig auf ein Fließband. Acht Arbeiterinnen sortieren sie in durchlässige schwarze Plastikboxen im Obstkistenformat.
Mit dem Gabelstapler werden die Boxen ins Lager weitertransportiert. Dort stapeln sich die Türme aus Plastikboxen bis unter die Decke. Zwei Wochen später haben sich etwa fünf Zentimeter hohe, fingerdicke Keime aus der Zwiebel geschoben. Zeit für den Umzug ins warme Gewächshaus.
Schwitzende Tulpen
Drei bis vier Wochen gedeihen die Tulpen hier. In dieser Zeit schaut Händle immer wieder nach dem Rechten und überprüft den Wasserautomat. "Tulpen schwitzen bei zu hoher Luftfeuchtigkeit und wenn wir lange trübes Wetter haben", sagt der Experte.
Nur drei bis vier Schnapsgläser bräuchten seine Pflanzen bis zur Ernte. Auch für die Tulpe Zuhause empfiehlt seine Frau: "Nur soviel Wasser in die Vase, dass die Füße der Pflanze gut drin stehen." Zu viel Wasser beim Tulpenanbau ist fatal. Schnell ist die ganze Marge verloren. Auf dem Lokalzeit-YouTube-Kanal Land.Schafft. gibt es noch mehr Einblicke in die Produktion bei Degenhardt.
Rund 12 Euro gaben Privathaushalte 2020 im Monat für Schnittblumen laut Landesamt für Statistik in NRW aus. Paare lagen mit 15 Euro pro Person etwas über diesem Wert. Die Preise für die Verbraucher steigen dabei seit Jahren stetig an. Bei Degenhardt käme von den höheren Verbraucherpreisen allerdings wenig an.
Der Verdienst pro Tulpe habe sich seit 25 Jahren nicht verändert, beklagt Händle. Eine Summe nennt er nicht, aber es gehe um Cent-Beträge. "Reich werden immer nur die Händler." Überprüfen lässt sich das schwer. Die Branche ist verschwiegen, wenn es um Preise geht. Er mache den Job mehr aus Leidenschaft als für den Profit. Viel zu oft sitze er aber inzwischen hinter dem Computer, dabei sei er eigentlich lieber im Gewächshaus.
Tulpenhöfe lokal und international
Deutschlands größtes Tulpenanbaugebiet liegt im Rhein-Kreis Neuss. Degenhardt gehört zu den größten Betrieben hier. Im internationalen Vergleich sind sie mit jährlich 18 Millionen Tulpen aber klein. 80 bis 100 Millionen Tulpen produzieren industrialisierte Betriebe in Holland. Dann allerdings vollautomatisch mit Ernterobotern und LED-Licht in geschlossenen Hallen, wo die Tulpen in mehreren Etagen übereinander wachsen.
Blumenbeet statt Bolzplatz
Kennengelernt haben sich Degenhardt und Händle im Studium. Sie wuchs im Familienunternehmen auf, er wollte eigentlich Weinbauer werden. "Nach einem Besuch hier hat es ihm aber so gut gefallen, dass wir beschlossen haben: Wir machen das zusammen", sagt Degenhardt. "Einer allein könnte den Betrieb auch gar nicht wuppen." 24 Hektar Land, 1,5 Hektar unter Glas, 40 bis 50 Mitarbeiter und zusätzliche Saisonkräfte.
Angefangen hat alles, weil ihr Uropa einen Fußball verschossen hat - ins Gewächshaus der Nachbarn. Degenhardt erzählt: "Er musste seine Schuld abarbeiten. Das hat ihm so gut gefallen, dass er beschlossen hat, Gartenbauer zu werden." Ob sie selbst überhaupt noch Tulpen sehen könne, wenn sie Feierabend hat? "Auf alle Fälle. Jede Woche gibt es einen frischen Strauß."
Über dieses Thema haben wir auch am 01.03.2024 im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit aus Düsseldorf, 19.30 Uhr.