"Na kommt", ruft Michael Stücke, pfeift und schließt das Gatter hinter sich. Das lassen sich seine Schafe nicht zweimal sagen. Ein Dutzend Böcke trampeln mähend auf ihn zu. Unter ihnen Schafbock Karl. Zärtlich und zugleich nachdenklich krault Stücke dem Bock mit langen, gekringelten Hörnern den Kopf. Ohne den Einsatz des Schäfers wäre Karl schon seit über einem Jahr tot. Geschlachtet, weil er schwul ist.
Homosexualität ist in der Tierwelt weit verbreitet und wissenschaftlich gut erforscht. Verschiedene Studien haben das Paarungsverhalten von Schafen untersucht und dabei festgestellt, dass etwa 8 bis 12 Prozent aller männlichen Schafe schwul sind. "Sie sind damit nicht für die Zucht geeignet, weil sie logischerweise keine Nachkommen produzieren", sagt Stücke. Und wenn ein Bock keinen "Bock" auf die Weibchen hat, landet er schnell beim Schlachter.
Schwule Schafe in OWL: Queeres Projekt sorgt bundesweit für Aufsehen
Stücke ist selbst homosexuell. Zusammen mit seinem Mann betreibt er die "Schäferei Stücke" mit rund 300 Schafen und einem Hofladen in Löhne. Heute leben auf seinem Hof im ostwestfälischen Löhne 21 schwule Schafböcke aus ganz Deutschland. Sie alle interessieren sich nur für ihre männlichen Artgenossen und sind damit die - wie er sagt - weltweit erste schwule Schafherde.
Die Idee zu der schwulen Schafherde kam ihm im Gespräch mit Freunden. Sie wollten wissen, wie viele Schafe überhaupt homosexuell sind. Schnell fand sich auch eine Kölner Agentur, die das Projekt unterstützt. Wenn Stücke darüber spricht, schwingt Stolz in seiner Stimme mit. Er freut sich über jeden Bock, den er retten konnte. Und darüber, dass sie eine wichtige Aufgabe übernehmen. Ihre Wolle wird nicht nur zu hochwertigen Produkten verarbeitet, sie steht auch für ein Miteinander, unabhängig von der Sexualität.
Stücke gründet mit weiteren Partnern das Modelabel "Rainbow Wool", das seine geschorene Wolle weiterverarbeitet. Interessierte können dort Aufnäher für Jacken, Schnürsenkel und Mützen aus der Wolle von Stückes schwulen Schafen kaufen. Für größere Kleidungsstücke reicht die Wolle von 21 Schafen nicht. Das Besondere: Die Gewinne aus dem Verkauf gehen zu 100 Prozent an den Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD).
Was hat Tokio Hotel-Sänger Bill Kaulitz damit zu tun?
Richtig aufregend wurde es im Sommer auf Stückes Hof. Für den Dreh des Promo-Videos für das "Rainbow Wool"- Projekt kam ein großes Filmteam nach Löhne. 35 Leute, die den ganzen Hof gleich für mehrere Tage auf den Kopf stellten. Mit dabei als Schaf-Pate: Bill Kaulitz, Frontmann der Band Tokio Hotel. "Das war schon ein großer Auflauf. Und die Schafe standen im Mittelpunkt", erinnert sich Stücke. Der 51-Jährige weiß noch genau, wie verblüfft er war, als er erfuhr, dass der weltweit bekannte Sänger Bill Kaulitz die Patenschaft für seinen Schafbock Karl übernehmen will. Und dass Kaulitz dafür sogar zu ihm ins beschauliche Löhne kommt.
Ohne die Patenschaften für die schwule Schafherde könnte Stücke das Projekt nicht finanzieren. Über 200 Patenschaften sind schon vergeben. Damit ist der Fortbestand der Herde gesichert. Ein gutes Gefühl für Stücke. Es zeigt ihm ganz deutlich: Die Schafherde bewegt die Menschen.
Über dieses Thema haben wir auch am 02.10.2024 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.