Die Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt. In dicke Mäntel gehüllt lauschen die Menschen andächtig, als der erste Glockenschlag die Stille durchbricht und sich zu einem harmonischen Glockengeläut entwickelt. Es ist der erste Advent. Draußen ist es kühl und windig. Auf dem kleinen runden Kirchplatz drängen sich viele Weihnachtsmarktstände aneinander - auch dort schauen die Menschen nach oben und lauschen dem Klang der Glocken.
Auf diesen Moment haben sie lange gewartet. Zwei Jahre sind vergangen, vom ersten Beschluss, neue Glocken zu kaufen, bis zur Klang-Premiere. Und die evangelisch-reformierte Gemeinde in Wülfrath hat viel Geld zusammengekratzt: 200.000 Euro kosten die neuen Glocken und die Sanierung des maroden Glockenstuhls. Aber es musste sein, sonst hätten in der Stadtkirche bald gar keine Glocken mehr geläutet.
Die Geburt der neuen Glocken
Am 22. September 2023 hat Pfarrer Thomas Rehrmann ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. "Es war eine etwas unruhige Nacht, aber vor allem freue ich mich jetzt", sagt der 48-Jährige, als er sich auf den Weg zum Glockenguss in Baden-Württemberg macht. In der Halle der Gießerei angekommen sucht sich Rehrmann einen geeigneten Ort, um das Jahrhundertereignis, die "Geburt" der Glocken, mitzuerleben. "Der Gedanke daran, dass die Glocken, die jetzt gegossen werden, vielleicht mehrere hundert Jahre halten, berührt mich tief." Im Schmelzofen herrschen mehr als 1000 Grad. Eine große Flamme lodert empor in Richtung Hallendach. Um sich vor der Hitze zu schützen, sind die Glockengießer in silberne Schutzmäntel gehüllt. Schweiß glänzt auf ihren Gesichtern.
Als die flüssige Bronze aus dem Ofen gluckernd in die erste Glockenform fließt, muss auch Rehrmann seine Jacke ausziehen. Er beobachtet, wie sich das glühende Metall über einen kleinen Weg in der Erde zur unterirdischen Glockenform schlängelt. Für die Glockengießer bedeutet es höchste Konzentration, ihre Gesichter sind fast unbewegt. Die Menge an Metall, die in die einzelnen Formen fließt, muss exakt stimmen. Außer dem Gluckern des heißen Metalls hört man nur ab und zu leise Stimmen, wenn die Glockengießer sich untereinander abstimmen. Es ist wie eine Aufführung und eine Andacht zugleich. Rehrmann wagt kaum zu atmen, in seinen Augen spiegelt sich der Feuerstrom des Metalls.
Als alle Formen gefüllt sind, verkündet der Chef der Gießerei: Der Guss ist geglückt. Alle applaudieren. Zwei Wochen müssen die Glocken nun in der Erde abkühlen.
Ein neuer Klang in der Stadt
Am frühen Morgen des 7. November fädelt sich ein riesiger Kran in Millimeterarbeit zwischen den alten Fachwerkhäusern der Stadt hindurch auf den Kirchplatz. Gleich wird er die Glocken in den Kirchturm heben. Ein routiniertes Team der Glockengießerei steht schon oben auf einem Gerüst bereit. Bevor die neuen Bronzeglocken an den Kran gehängt werden, müssen aber die alten Stahlglocken erstmal runter. Nach und nach werden die rostigen Metallkörper über eine Schiene gezogen und mit dem Kran herab gelassen.
Unten vor der Kirche stehen die drei neuen Glocken schon bereit. Sie waren bereits im Oktober angeliefert worden und standen zwei Wochen auf dem Kirchplatz, damit alle sie bestaunen konnten. Pfarrer Rehrmann geht jetzt ein letztes Mal langsam um die Glocken herum, bevor sie gleich für immer in den Kirchturm umziehen. Er lächelt zufrieden.
Eine besondere Geschichte
75 Jahre lang läuteten die alten Stahlglocken in der Kirche. Im Zweiten Weltkrieg waren die Bronzeglocken, die vorher hier waren, eingeschmolzen worden. Viele Wülfrather fanden den Klang der Stahlglocken scheppernd und rau. Bei ihrem Abbau werden viele trotzdem wehmütig. Ganz verabschieden müssen sie sich aber nicht. Die größte Glocke bleibt als Denkmal vor der Stadtkirche stehen. Erklingen wird sie aber nicht mehr.
Die erste neue Glocke wird vom Kran heraufgezogen. Sie glänzt silbrig-golden im diesigen Novemberlicht. Pfarrer Rehrmann ist für den großen Augenblick zusammen mit seinem Baukirchmeister und dem Architekten über das Gerüst an der Kirche nach oben gestiegen. Seine Augen leuchten, als er die neuen Glocken in Empfang nimmt. Endlich sind sie da.
Nach dem Adventsgottesdienst und dem ersten Läuten der neuen Glocken beantwortet Rehrmann gestikulierend die vielen Fragen der Gemeindemitglieder. Mit einem Lachen stellt er fest: "Über Glocken habe ich in meinem Leben noch nie so viel gesprochen wie in den vergangenen Wochen."
Über dieses Thema haben wir an mehreren Stellen im WDR-Fernsehen berichtet:
- am 09.10.2023, Lokalzeit Bergisches Land, 19.30 Uhr: Neue Glocken für Wülfrather Stadtkirche
- am 08.11.2023, Lokalzeit Bergisches Land, 19.30 Uhr: Neue Glocken für Wülfrath werden eingehoben
- am 04.12.2023, Lokalzeit Bergisches Land, 19.30 Uhr: Neue Glocken in Wülfrath erklingen zum ersten Mal