Sexueller Missbrauch in der Kirche: Priester, Onkel, Täter
Angelika Voge weiß genau, wie schwer es ist, über das Erlebte zu sprechen. Sie selbst brauchte elf Jahre, bis sie es schließlich schaffte, ihren Onkel für das anzuzeigen, was er ihr angetan hatte: sexuellen Missbrauch, immer wieder. Daraufhin meldeten sich auch andere Opfer des Priesters.
Im vergangenen Jahr wurde er schließlich zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Am Ende konnten ihm 110 Taten nachgewiesen werden. Der Gerichtsprozess war für die 37-Jährige ein Wendepunkt: "Ich habe gesehen, wie viele Betroffene im Laufe der Verhandlung dazu kamen. Und ich möchte gerne allen zeigen, dass wir nicht alleine damit sind. Wir sind eine Gemeinschaft, wir Betroffenen. Und ich will für jeden Betroffenen da sein, indem ich zuhöre."
Beratungsstelle gegen Missbräuche in der Kirche
Das tut Voge in der Beratungsstelle Leuchtzeichen. Leuchtzeichen wurde vor anderthalb Jahren gegründet. Die Beratungsstelle richtet sich an Menschen, die Opfer sexualisierter Gewalt im kirchlichen Kontext geworden sind. Leuchtzeichen ist Teil einer größeren Initiative von ehemaligen Mitgliedern der katholischen Kirche, die sich im Verein "Umsteuern!" zusammengeschlossen haben. Sie kritisieren die mangelnde Aufarbeitung des Missbrauchs und wollen selbst aktiv werden.
Unter anderem rufen sie dazu auf, die nach dem Austritt eingesparte Kirchensteuer an Projekte zu spenden, die sich gegen sexualisierte Gewalt einsetzen. Der Verein engagiert sich politisch und macht auf Missstände aufmerksam. Und er hilft Betroffenen in Form der Beratungsstelle, die, anders als viele andere Hilfsangebote, kirchlich unabhängig arbeitet. Neben dem persönlichen Gespräch bieten die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer auch eine Telefonsprechstunde und eine Onlineberatung an.
Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland
Die neuesten, offiziellen Zahlen zu sexuellem Missbrauch in der deutschen katholischen Kirche stammen aus September 2018. Die Deutsche Bischofskonferenz hatte die auch "MHG-Studie" genannte Untersuchung (wegen der beteiligten Universitätsorte Mannheim, Heidelberg und Gießen) in Auftrag gegeben. Dafür wurden 38.156 Personalakten aus den 27 deutschen Bistümern aus der Zeit 1946 bis 2014 ausgewertet.
- Demnach gab es bei 1670 Priestern und Diakonen (4,4 Prozent der untersuchten Akten) Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger.
- 3677 Kinder und Jugendliche sind als Opfer dieser Taten dokumentiert.
- 62,8 Prozent von ihnen waren männlich, 34,9 Prozent weiblich, bei 2,3 Prozent fehlten Angaben zum Geschlecht.
- Dabei handelt es sich aber nur um das sogenannte "Hellfeld", also dokumentierte Fälle. Forscher gehen davon aus, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegt.
Warum bleibt man trotz der Kindesmisshandlungen in der katholischen Kirche?
Zum Team der ehrenamtlichen Helfer gehört Miriam Bender. Auch sie berät in der Anlaufstelle regelmäßig Betroffene, die Hilfe suchen. Die 45-Jährige hat keine sexualisierte Gewalt erlebt. Aber nach ihrem Outing als lesbische Frau fühlte sie sich von der katholischen Kirche zunehmend diskriminiert. Obwohl die Kirche seit ihrer Kindheit ein wichtiger Teil ihres Lebens war, begann Bender, die Institution in Frage zu stellen. Ausgetreten ist sie bislang trotzdem nicht.
"Ich trenne ganz klar die Amtskirche und meinen Glauben. Die Amtskirche hat mein Vertrauen verloren. Sie spiegelt meine christlichen Werte überhaupt nicht mehr wider. Und das finde ich sehr traurig, weil die katholische Kirche eigentlich mein Zuhause ist", sagt Bender. Warum ist sie dann immer noch Mitglied? "Weil ich mir mein Zuhause nicht kaputt machen lassen will. Und weil ich gerne der Stachel bin. Und um der Stachel zu sein, muss man leider im Verein sein."
Telefonberatung zu sexuellem Missbrauch
Die ehrenamtlichen Beraterinnen und Berater wollen auf drei Wegen helfen: Zunächst bieten sie den Betroffenen fünf bis sechs Einzelgespräche an. Danach gibt es die Möglichkeit, Kontakt zu Anwälten aufzunehmen, die mit dem Verein zusammenarbeiten. Oder sie vermitteln einen Therapeuten oder eine Therapeutin. Auch die engagieren sich ehrenamtlich und halten Therapieplätze für Betroffene frei.
Die Beratenden verstehen sich als erste Anlaufstelle. Eine Therapie ersetzen können und wollen sie nicht. Eineinhalb Stunden investiert Voge jede Woche in ihr Ehrenamt. In erster Linie berät sie Betroffene am Telefon. "Mir fällt es schwer, auf Menschen zuzugehen. Deshalb finde ich das Gespräch am Telefon angenehmer. Darauf kann ich mich vorbereiten, das liegt mir mehr."
"Ich will meine Geschichte für etwas Gutes nutzen"
Einige, die sich bei ihr melden, erleben gerade sexualisierte Gewalt. Bei vielen anderen liegt sie Jahre zurück und wird plötzlich ganz aktuell. Als Betroffene kann Voge das nachempfinden. "Man hat das in der Kindheit erlebt und dann sperrt man das weg. Und zwar über Jahre. Dann kommt es einfach irgendwann wieder raus. Ich hatte letztens eine Betroffene am Telefon, die ist an einer Kirche vorbei gegangen und plötzlich brach alles über sie herein."
Voge hört zu. Fragt nach. Fühlt mit. Doch warum setzen sich die Ehrenamtlichen dieser Situation überhaupt aus? Einfach ist das nicht immer. Aber: "Ich will meine Geschichte für etwas Gutes nutzen“, sagt Voge. Dieser Gedanke gibt ihr Kraft.
Manchmal weinen auch die Beratenden
Miriam Bender ist Sozialpädagogin und eigentlich geübt darin, in Beratungsgesprächen professionelle Distanz zu wahren. "Aber manchmal ist das echt schwierig, und dann sage ich auch schon mal: Du, das geht mir jetzt gerade so nah, ich muss jetzt gerade mal laufen lassen. Und dann weine ich auch."
Aber der Verein biete Fortbildungen an und sorge dafür, dass sie und alle anderen ehrenamtlichen Beraterinnen und Berater therapeutisch unterstützt werden.
Gegen Missbrauch: Reden statt schweigen, fragen statt wegschauen
Beide Frauen wissen: Sie stehen mit ihrem Engagement erst am Anfang. Denn noch immer gibt es viele Opfer, die schweigen. Aus Angst, aus Scham. Und auch, "weil die katholische Kirche vertuscht und verschweigt, anstatt zu helfen", sagt Bender. Deswegen steht sie auch immer wieder gemeinsam mit anderen Ehrenamtlern des Vereins auf dem Marktplatz in Köln-Rodenkirchen, verteilt Handzettel, erzählt Passantinnen von ihrem Engagement.
"Wir müssen das Thema noch viel größer machen, müssen den Betroffenen zeigen: Hier gibt es Raum zum Reden", sagt Bender. Und tatsächlich bleiben an diesem Tag immer wieder Leute stehen, fragen nach. "Häufig spüren wir bei diesen spontanen Begegnungen: Die Menschen sind dankbar - und es steckt ganz oft persönliche Betroffenheit dahinter."