Vorher und Nachher: Die "Stille Stunde" im Wuppertaler Supermarkt

00:31 Min. Verfügbar bis 19.06.2026

Weniger Reize, mehr Ruhe: Einkaufen während einer "Stillen Stunde" im Supermarkt

Wuppertal | Heimatliebe

Stand: 19.06.2024, 16:45 Uhr

Alle Reize von außen, einfach ausgeschaltet. In einem Wuppertaler Supermarkt wird es jeden Nachmittag für eine Stunde ganz still. Was es mit der "Stillen Stunde" auf sich hat - und warum davon so viele profitieren.

Von Jana Brauer (Text), Riem Karsoua (Multimedia)

Aus Lautsprechern ist Musik zu hören. Stimmengewirr. Ein Rollwagen wird scheppernd durch einen Gang geschoben. An den Kassen piept es unentwegt. Es ist der unverwechselbare Soundtrack eines Supermarktes. Dieser hier befindet sich im Wuppertaler Stadtbezirk Heckinghausen. Es ist 15 Uhr am Nachmittag, als sich die Atmosphäre plötzlich verändert. Die Musik verstummt. Kein Scheppern, kein Piepen mehr. Auch das Licht wird gedimmt und eine ungewohnte Ruhe breitet sich in den Supermarktgängen aus.

Eine kaum beleuchtete Käsetheke in einem Supermarkt

Auch an der Käsetheke ist das Licht gedimmt und die Auslage nicht beleuchtet

Das ist kein Stromausfall oder eine Energiesparmaßnahme, es ist die "Stille Stunde". Die gibt es in diesem Wuppertaler Supermarkt täglich, immer zwischen 15 und 16 Uhr. Sechzig Minuten, in denen Einkaufen nicht gleich Reizüberflutung bedeutet. Für Menschen im Autismus-Spektrum ist das zum Beispiel besonders wichtig. Bei ihnen kann Reizüberflutung im schlimmsten Fall zu einem Zusammenbruch führen. Die "Stille Stunde" richtet sich aber auch an hochsensible Kunden und Menschen mit beispielsweise ADHS, Depressionen, Angststörungen oder Migräne.

Weniger Reize bedeuten mehr Sicherheit

Während der "Stillen Stunde" im Edeka-Supermarkt in Wuppertal-Heckinghausen sind nicht nur Musik und Kassenpiepen abgestellt, es gibt auch keine Durchsagen, keine grellen Displays und die großen, scheppernden Rollwagen mit neuer Ware werden nicht bewegt. Die tägliche ruhige Einkaufsstunde gibt es hier seit Anfang des Jahres.

Den Anstoß dazu hat Jasmin Hall dem Supermarktleiter gegeben. Hall ist Logopädin und arbeitet unter anderem mit Menschen mit Autismus und ADHS. "Die 'Stille Stunde' gibt den Menschen Planbarkeit und Sicherheit", erklärt sie. "Der Einkauf wird überschaubarer, was die Reize angeht." Die Betroffenen müssen weniger Angst davor haben, in unkontrollierbare Situationen zu kommen.

Wie kann sich eine Reizüberflutung bei autistischen Menschen äußern?

00:24 Min. Verfügbar bis 19.06.2026

Natürlich können während der "Stillen Stunde" auch Menschen einkaufen gehen, die an sich kein Problem mit Reizüberflutung haben. Ob sich an diesem Nachmittag in Wuppertal nun Betroffene unter den Kunden befinden oder nicht - das etwas andere Einkaufserlebnis scheint anzukommen. "Ich finde das ganz toll. Ich habe gerne Ruhe. Es sind weniger Leute hier", sagt eine Kundin, die ihren Einkaufswagen im Dämmerlicht durch einen der Gänge schiebt. Ein anderer Kunde hat bereits gezahlt und seinen Einkauf in Taschen gepackt. "Es war schön ruhig und angenehm. Das kann von mir aus öfters so sein."

Die Idee zur "Stillen Stunde" kommt ursprünglich aus Neuseeland. Als Erfinder gilt ein Mitarbeiter einer großen Supermarktkette. Neuseeländische Medien berichten, dass er selbst ein autistisches Kind hat und deshalb die Einführung einer "Quiet Hour", englisch für "Stille Stunde", vorschlug. Ein Jahr lang testete die neuseeländische Supermarktkette das Konzept in mehreren Filialen. 2019 führte das Unternehmen die ruhige Einkaufsstunde in all seinen 180 Geschäften ein. Mittlerweile wird das Konzept auch in Ländern wie Großbritannien oder der Schweiz umgesetzt.

Auch für Mitarbeitende mehr Ruhe

Von der "Stillen Stunde" können aber nicht nur die Kundinnen und Kunden profitieren. Auch die Mitarbeitenden sind in dieser Zeit weniger Reizen ausgesetzt. An der Kasse in der Wuppertaler Supermarktfiliale zieht die Kassiererin ein Teil nach dem anderen über den Scanner. Normalerweise würde es bei jedem Produkt piepen. "Für mich ist das auch sehr schön. Es ist richtig angenehm, mal so zu arbeiten. Ohne Geräusche im Hintergrund. Echt entspannend."

Eine Kassierein bei ihrer Arbeit im Supermarkt

Besonderheit für Mitarbeiterin: Kassieren im Dämmerlicht und ohne Piepton

Für die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) ist das ein wichtiger Aspekt. Der Genossenschaft zufolge kann die Dauerbeschallung im Einzel- und Lebensmittelhandel "das psychische Befinden, die Motivation und die Leistung der Beschäftigten ungünstig beeinflussen". Deshalb rät die BGHW Unternehmen generell, den Lärm in Betrieben zu mindern.

"Stille Stunde" noch eine Besonderheit in NRW

Im Supermarkt in Wuppertal-Heckinghausen ist die "Stille Stunde" fest etabliert. Damit ist das Geschäft noch eine Besonderheit in NRW. Bislang bieten nur vereinzelte Märkte das Einkaufen ohne Reizüberflutung an. Sie befinden sich unter anderem in Bergisch-Gladbach, Iserlohn, Wickede oder auch Aachen.

Im Wuppertaler Supermarkt ist es mittlerweile kurz vor 16 Uhr. Als die volle Stunde erreicht ist, gibt es eine Durchsage: "Liebe Kunden, die 'Stille Stunde' ist nun beendet. Wir bedanken uns für Ihre Unterstützung." Das Licht wird heller, die Musik springt an und die Kassen geben ihre gewohnten Pieptöne von sich.

Über das Thema haben wir am 28.02.2023 auch im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit Bergisches Land, 19.30 Uhr.