Zwischen zwei Ländern: Die bewegte Geschichte des Selfkant
Landkreis Heinsberg | Heimatliebe
Stand: 31.07.2024, 15:52 Uhr
Vor 75 Jahren wurde der Selfkant, die westlichste Gemeinde Deutschlands, niederländisch. Und das über Nacht. Über eine Region zwischen zwei Staaten.
Von Katharina Hollstein (Text) und Bettina Staubitz (Multimedia)
Es ist der 23. April 1949, 8 Uhr morgens. Niederländische Soldaten überqueren die Grenze zu Deutschland. Sie besetzen den Selfkant. Von heute auf morgen haben die Einwohner, die gerade noch Deutsche waren, eine neue Regierung. Das Sagen hat von nun an ein Verwalter, der direkt der niederländischen Königin unterstellt ist.
Wie die niederländischen Soldaten im Selfkant ankamen
00:13 Min.. Verfügbar bis 31.07.2026.
Wer in Deutschland arbeitet oder zur Schule geht, für den gehören nun auch Grenzkontrollen zum Alltag. Erst, um aus dem einen Land herauszukommen, dann wenige Meter weiter noch einmal, um in das Nachbarland einzureisen. Wer Waren mitbringt, muss sie verzollen. Besonders Lebensmittel sind in den Niederlanden zu dieser Zeit günstiger als in Deutschland.
Warum durften die Niederlande den Selfkant für sich einnehmen?
Als Reparation für die durch Deutschland angerichteten Schäden im Zweiten Weltkrieg, forderten die Niederlande deutsches Gebiet ein. Die Londoner Deutschlandkonferenz stellte den Selfkant unter niederländische Auftragsverwaltung. Mit seiner Geschichte beschäftigt sich heute der "Zipfelbund", ein Zusammenschluss aus Gemeinden aus den Randgebieten Deutschlands.
Schulunterricht blieb Deutsch
Paul Beckers ist heute Vorsitzender der Heimatvereinigung Selfkant. Seine Aufgabe: "Verständnis und Liebe für die Eigenart der Heimat zu fördern". Beckers ist 69 Jahre alt, wurde in die Zeit der niederländischen Auftragsverwaltung hineingeboren: "Wir haben das als Schüler gar nicht richtig registriert. Es blieb alles in deutscher Sprache: Zeitungen, Lesen, Unterricht, alles blieb deutsch".
Paul Beckers setzt sich dafür ein, dass die Geschichte des Selfkants nicht in Vergessenheit gerät
Für seine Eltern dagegen war vieles fremd, erinnert er sich: Sie mussten sich an neue Gesetze gewöhnen, plötzlich mit Gulden statt Mark bezahlen, regelmäßig Schlagbäume passieren.
Auftragsverwaltung bringt Wohlstand
Doch die Niederländer überraschten die Deutschen, brachten vielen Einwohnern Wohlstand. Die Auftragsverwaltung erneuerte Straßen. Wer ein Eigenheim bauen wollte, konnte Fördermittel vom Staat bekommen. Die Voraussetzung: Der niederländische Baustil musste eingehalten werden.
Wie mussten die Häuser im niederländischen Baustil aussehen?
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Viele Selfkanter führten ein gutes Leben in den Niederlanden. Dementsprechend waren sie kaum begeistert davon, dass Deutschland plante, den Selfkant zurückzukaufen. Viele der rund 10.000 Einwohner haben bis heute einen niederländischen Pass.
Nach 5000 Tagen wieder offiziell deutsch
Trotz geteilter Meinungen über die Zukunft des Selfkants war es in der Nacht vom 31. Juli auf den 1. August 1963 so weit: Nach 14 Jahren ging die Gemeinde zurück an die Bundesrepublik Deutschland. Für 280 Millionen Euro.
Das nutzten viele für sich. Schließlich wurden alle Güter, die sich im Selfkant befanden, über Nacht schlagartig deutsch. "Hier standen viele Lkws voll beladen mit üblicher, günstiger Handelsware. Mit Tieren, mit Kaffee, mit Getreide", erinnert sich Beckers. "Um 0 Uhr, am 31. Juli, ging dann die Ware über die Grenze und war somit legal eingeführt, ohne Abgaben".
Um günstige Waren über die Grenze zu bringen, stauten sich die Lkws im Selfkant
Und die Zöllner? Die drückten in dieser Nacht wohl alle Augen zu. Zwar wurden Listen für eine eventuelle Nachverzollung geführt, doch die Bundesregierung entschied: Nichts davon sollte nachverfolgt werden. So wurde aus dem Rückkauf des Selfkants auch die wohl größte legale Schmuggelaktion der Nachkriegszeit.
Über dieses Thema haben wir auch am 23.04.2024 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit aus Aachen, 19.30 Uhr.