Jürgen Rausch steht vor dem Verkaufsfenster seines Pavillons. Über dem Fenster ist "Jürgen Rauschs Bundesbüdchen" zu lesen.

Ein Büdchen als Zeitzeuge: Die spannende Geschichte des Bundesbüdchens

Bonn | Heimatliebe

Stand: 30.08.2024, 07:03 Uhr

Spitzenpolitiker wie Konrad Adenauer und Joschka Fischer kauften dort ihre Zeitungen oder eine Bockwurst: Das "Bundesbüdchen" wurde zu einem Zeitzeugen der Bonner Regierungszeit. Dass es heute noch steht, hat viel mit Glück zu tun - und mit einem Mann, der nicht loslassen will.

Von Mirjam Ratmann

Ein Mann sitzt auf einer Bank und weint. Gerade eben hat ihn Bundeskanzler Helmut Kohl aus seinem Ministeramt entlassen. Vor ihm am Büdchen steht ein Sicherheitsbeamter, er zeigt auf den Mann, lacht. Als Jürgen Rausch das sieht, erteilt er dem Sicherheitsbeamten Hausverbot. "Ich konnte das nicht ab und hab dem gesagt, dass er verschwinden soll", sagt der heute 68-Jährige, als er von der Situation damals erzählt. Einer von vielen Momenten, die Rausch bis heute nicht vergessen hat.

Jürgen Rausch über seine bewegendsten Momente

00:39 Min. Verfügbar bis 30.08.2026


Das Hausverbot für den Sicherheitsbeamten ist eines der wenigen Male, die sich Rausch in Politik einmischt. Denn eigentlich sieht er sich als einfacher Zeitungsverkäufer. Doch kaum jemand war näher am politischen Geschehen der Bonner Republik dran, als Jürgen Rausch in seinem "Bundesbüdchen".

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Im Zentrum der Bonner Republik

Unweit vom Bonner Rheinufer steht das World Conference Center. Ein moderner Bau mit großen, verspiegelten Fenstern, viel Grau und geradliniger Architektur. Hier haben sich renommierte Organisationen angesiedelt. Darunter die Deutsche Welle, das Bundespresseamt oder die Deutsche Stiftung Denkmalschutz. Auch die Vereinten Nationen sind mit 26 Abteilungen vertreten.

Schwarz-Weiß Aufnahme vom Verkaufsstand von Jürgen Rauschs Mutter, Christel. Christel Rausch steht vor einem Holzstand mit üppig dekorierter Auslage.

Christel Rausch mit ihrem ersten Verkaufsstand

Einst war dieser Ort auch Schaltzentrale der Bundesrepublik Deutschland. 50 Jahre lang, von 1949 bis 1999, befand sich dort der Regierungssitz der westdeutschen Bundesregierung, samt Bundestag, Bundesrat und Kanzleramt. Und schräg gegenüber vom Bundesrat stand das Büdchen von Jürgen Rausch.

In den 1980er-Jahren herrscht dort Hochbetrieb. Manche Politiker, Journalisten und parlamentarische Mitarbeitende kaufen zum Mittag eine Bockwurst, andere lieber Zigaretten oder die aktuelle Tageszeitung.

Nach der Wiedervereinigung entscheidet sich das Parlament knapp für Berlin als neue gesamtdeutsche Bundeshauptstadt. Als der Bundestag 1999 nach Berlin umzieht, brechen Rauschs Kunden weg. 2006 muss das Büdchen schließlich dem World Conference Center weichen. Für Rausch beginnt der Kampf um sein Erbe. Ein Kampf, der fast 15 Jahre dauern wird.

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Leben und Kampf für ein Büdchen

Rausch ist 28, als er das Büdchen von seiner Mutter Christel Rausch übernimmt. Die Kriegswitwe hatte sich ab 1949 erst mit Obstkörben, später mit einem mobilen Verkaufskarren auf dem Platz vor dem Bundestag gestellt. Damals versuchte sie, etwas zur Witwenrente dazuzuverdienen. Ab 1957 stand ihr dafür der 20 Quadratmeter große ovale Pavillon mit Glasscheiben zur Verfügung.

Schwarz-Weiß Aufnahme vom Bundesbüdchen

Das Bundesbüdchen am Bundesrat

Knapp 30 Jahre lang führte sie das Büdchen. Auch bei Jürgen Rauschs ersten Tagen, 1984, hilft sie aus. Aufgeregt, schweißgebadet und ganz unruhig sei er gewesen, sagt Rausch. "Ich war nervös vor dem, was da kommen wird, mit den ganzen prominenten Politikern." Und das, obwohl er im Büdchen aufwuchs.

Als Kind sitzt er neben seiner Mama im Kinderwagen, dann auf einem Hocker im Büdchen, rennt darin rum, freut sich, wenn er die frisch gedruckten Micky Maus Hefte riecht. Während seine Schwester Lehrerin und sein Bruder Versicherungskaufmann werden, will Rausch nach seiner Bankkaufmannlehre zurück in das Büdchen. Oder wie er sagt: "Ich bin da hängen geblieben." Er habe gesehen, wie viel Spaß es mache und wie toll das Publikum sei. "Es war eine Chance zu sehen, wie Menschen so ticken, die es bis ganz nach oben geschafft haben."  

Besonders fasziniert ihn der Grünen-Politiker Joschka Fischer, der 1994 erstmals in den Bundestag einzieht. Er sei anders gewesen als die alten, knorrigen Konservativen. Ein sehr von sich selbst überzeugter Mann, wie Rausch ihn nennt. Fischer kauft im Büdchen Asterix-Comics, Rausch nennt ihn "den Obergrünen". Fischer soll darauf entgegnet haben: "Das stimmt wohl."

Andere Politiker holen sich Alkohol statt Comic-Hefte. Manchmal trinkt Rausch einen mit. Von der "Du-Kultur" hält er jedoch nichts. "Ich wollte nie so jemand sein, der um Promis herum scharwenzelt. Das brauche ich nicht." In Sitzungswochen ist er von 6 bis 21 Uhr am Büdchen, manchmal unterstützen ihn Aushilfen. "Das ist kein Zuckerschlecken. Ich hatte keine Zeit, um viel rumzuquatschen."

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Bundesweite Bekanntheit rettet das "Bundesbüdchen"

Spätestens der Wetteinsatz des damaligen WDR-Intendanten Friedrich Nowottny, macht das Büdchen 1981 bundesweit bekannt: Als "Bestrafung" für eine verlorene Wette bei "Wetten, dass …?", muss Nowottny einen Tag am "Bundesbüdchen" Wiener Würstchen verkaufen, darunter an Loki Schmidt, die Frau des zu dieser Zeit amtierenden Bundeskanzlers Helmut Schmidt.

Fortan dient das Büdchen als Kulisse für Quizsendungen, Talkshows oder TV-Serien. Sogar im ein oder anderen "Tatort" ist es zu sehen. Diese Bekanntheit und historische Bedeutung retten das Büdchen 2006 vor dem vollständigen Abriss. Stattdessen lagert es bei einer Spedition in Bornheim ein.

Eingelagert, verfallen, renoviert: Das Bundesbüdchen nach der Bonner Republik

00:25 Min. Verfügbar bis 30.08.2026

In der Deutschen Stiftung Denkmalschutz findet Rausch einen Verbündeten, der es 2013 unter Denkmalschutz stellt. Gemeinsam mit dem von Rausch gegründeten "Förderverein historischer Verkaufspavillon" setzen sie sich fortan für die Sanierung und den Wiederaufbau des Büdchens ein.

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Erinnerungskultur wachhalten

Für Rausch ist das Büdchen - damals wie heute - ein Symbol für die Bonner Republik, für Einfachheit und Bescheidenheit, wie er sagt. Manchmal wirkt der Kämpfer Rausch selbst wie dieses Symbol. Nur eine Denkmalplakette habe man ihm nicht ans Knie genagelt, sagt er witzelnd. "Das führt zu weit."

Jürgen Rausch vor dem Bundesbüdchen

Jürgen Rausch vor dem Bundesbüdchen

Vor vier Jahren, 2020, kehrt das Büdchen schließlich zurück ins ehemalige Regierungsviertel. Am 21. August feiern Rausch und die Stiftung Denkmalschutz an der Heussallee die feierliche Wiedereröffnung. Fix und fertig sei er an dem Tag gewesen, schweißgebadet und kaputt, sagt Rausch. Aber an diesem Tag hatte er gewonnen.

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Das Erbe immer im Blick

Mittlerweile ist das "Bundesbüdchen" ein Stopp auf dem "Weg der Demokratie", einem Spaziergang durch das ehemalige Bonner Regierungsviertel. Der Spaziergang klärt über die ersten Jahrzehnte der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg auf. "Ich bin froh, dass das Büdchen noch heute mit dem Grundgedanken des Grundgesetzes, nämlich Frieden und Freiheit, verknüpft wird", sagt Rausch.

Das Bundesbüdchen lebt weiter

00:46 Min. Verfügbar bis 30.08.2026


Was seine Mutter wohl dazu sagen würde, dass das "Bundesbüdchen" heute wieder steht? Rausch überlegt nicht lange: "Sie würde weinen vor Freude."

Obwohl Rausch nicht mehr selbst im Büdchen steht, sein Erbe hat er trotzdem im Blick. In den Kiosk ist mittlerweile eine Kölner Bäckereikette eingezogen. Statt an hochrangige Politiker verkaufen zwei Frauen heute Käsebrötchen und Cola Zero an Mitarbeitende des UN-Campus und der Deutschen Welle. Zeitungen und Zigaretten gibt es weniger als früher, Bockwurst dafür immer noch.