Balance in Bochum: Wie ein Fahrradladen abseits des Mainstreams Tradition wurde
Stand: 28.07.2023, 07:32 Uhr
Im Bochumer Ausgehviertel Bermudadreieck reihen sich Kneipen, Bars und Restaurants aneinander. Seit mehr als 40 Jahren mittendrin: Der selbstverwaltete Fahrradladen Balance. Alternativ und besonders ist das Konzept noch heute. Ein bisschen New Work zum Anfassen, mitten im Ruhrgebiet.
Von Maren Bednarczyk
Wer in das Herz des Fahrradladens Balance eintauchen will, muss den oben liegenden Verkaufsraum kurz ignorieren und die kleine unscheinbare Treppe Richtung Keller nehmen. Hier schrauben mehrere Mitarbeiter an verschiedenen Rädern auf Fahrradständern. Sie schrauben, sägen, stellen Schaltungen und Bremsen ein. Ihre Hände sind dunkel verschmiert vom Kettenfett der Räder.
Die Arbeit in der Werkstatt
00:56 Min.. Verfügbar bis 13.06.2025.
In den Geruch des Fetts mischt sich der von Gummi. Die Wände hängen voller Werkzeuge und Papiere, bunte Schubladen reihen sich aneinander. Auf Regalen stehen verschiedene Flüssigkeiten. Ein orchestriertes Chaos.
Balance: Alternatives Konzept mitten im Bermudadreieck
Auf den rund 700 Quadratmetern Verkaufs- und Werkstattfläche dreht es sich seit 1983 nur um eins: Fahrräder. Von den vier Gründern arbeitet hier inzwischen allerdings keiner mehr. Ein Angebot, das im Bermudadreieck in der Bochumer Innenstadt auffällt. Sonst geht es hier um Bier, Cocktails oder Currywurst. Nicht nur die Lage ist ungewöhnlich, sondern auch das Geschäftsprinzip. Sechs gleichberechtigte Chefs bestimmen gemeinsam über die Zukunft des Balance. Sie erhalten alle den gleichen Lohn und tragen geschäftlich das gleiche Risiko. Bei größeren Streits wird ein Moderator eingeschaltet, für alle Entscheidungen arbeiten sie nach Konsensprinzip.
Chef Michael Schulz über flache Hierarchien im Fahrradladen
00:40 Min.. Verfügbar bis 13.06.2025.
Einen, den dieses Konzept schon vor langer Zeit ansprach, ist Stephan Ensthaler. Der 53-Jährige schraubt in einer Ecke des Verkaufsraums im Erdgeschoss an der kaputten Fahrrad-Kurbel. Auch seine Hände zeugen von der Arbeit mit fettigen und öligen Ketten. An der Wand hinter ihm hängt an einem großen Sperrholzbrett wie im Keller Werkzeug, allerdings etwas sorgfältiger aufgereiht. Zwei Meter weiter stehen akkurat in Reihe gestellte Fahrräder, vom Kinderfahrrad bis zum Mountainbike für Profis. An Wänden und auf Ständern hängen bunte Helme, Seitenspiegel, Ersatzschläuche oder Sportbrillen. Ensthaler nennen hier alle nur "Ente". Er ist einer der sechs Gesellschafter und erinnert sich gut an die Anfänge des Ladens: "Wir wollten unser eigener Arbeitgeber sein und ein alternatives Kaufhaus."
Von Berlin in den Pott
Schon lange bevor New Work zum Trendbegriff in unserer heutigen digitalisierten und globalisierten Welt wurde, hat das Balance auf mehr Verantwortung für die Mitarbeitenden und Flexibilität in der Arbeitswelt gesetzt. Auch wenn in Bochum sicher niemand auf die Idee käme, diesen Begriff zu benutzen. Dabei wird gerade für jüngere Menschen das Thema Work-Life-Balance immer wichtiger.
Lina Jähnig hat sich unter anderem deswegen entschieden, aus Berlin ins Revier zu ziehen und im Balance zu arbeiten. Die 25-Jährige arbeitet an einem Trekkingrad, wechselt einen Reifen, pumpt Luft in den Schlauch.
Lina Jähnig arbeitet am liebsten nachhaltig
"Ich komme jeden Tag gerne zur Arbeit. In der Werkstatt sind wir zwar nicht immer super feinfühlig, aber insgesamt funktioniert es sehr gut", sagt die Fahrradmechanikerin. Für sie spielt neben der ungewöhnlichen Firmenhierarchie auch die inhaltliche Ausrichtung des Balance eine Rolle.
Nachhaltigkeit und "gelebtes Chaos"
Denn wer ins Balance kommt, tut das nicht unbedingt, um ein neues Fahrrad zu kaufen. Viele Kunden kommen seit Jahren, mache seit Jahrzehnten. Sie hängen an ihren Rädern. "Ich habe ein Fahrrad, das ist 25 Jahre alt, das habe ich hier gekauft und es fährt immer noch", sagt Kunde Michael Köcke. Rund 30.000 bis 40.000 Kunden besuchen das Balance pro Jahr. 1500 neue Räder werden dabei verkauft. Nachhaltigkeit ist eben auch Teil der Firmenpolitik.
Das Ladenlokal von Balance im Bochumer Bermudadreieck
Direkt neben der Werkstatt ist das Materiallager. In metallenen Schwerlastregalen stapeln sich halb geöffnete Pappkartons. Das Licht reicht gerade so, um in den hinteren Regalen überhaupt etwas erkennen zu können. Michael Schulz, ebenfalls Geschäftsführer im Balance, nennt es liebevoll das "gelebte Chaos". Er ist auf der Suche nach einem Schutzblech. "Wir räumen auf, wir sortieren, und wir finden zufällig Dinge", sagt der 62-Jährige und ergänzt während er das gesuchte Blech aus einem Karton zieht: "Und manchmal legen wir Dinge doch auch ganz bewusst an bestimmten Stellen ab."
Es scheint die Kombination zu sein, die den Fahrradladen besonders macht: Die Liebe für alte Fahrräder, Verantwortung für alle Mitarbeiter und die vielen Leute, die immer wieder herkommen. Schulz wünscht sich für die nächsten 40 Jahre: "Dass immer wieder junge Leute die Geschäftsführung übernehmen. Und dass ich, wenn ich 100 Jahre alt bin, hier immer noch einen Schlauch bekomme."
Über dieses Thema berichteten wir auch im WDR-Fernsehen am 05.07.2023: Lokalzeit Ruhr, 19.30 Uhr.