Gertrud Schlierkamp legt zwei neongrüne Sitzkissen auf eine Bank in der Innenstadt von Warendorf. Auf eines der Kissen setzt sie sich selbst, das andere bleibt frei. Es ist noch früh, erst 9 Uhr morgens. Der Himmel ist bedeckt und das Thermometer zeigt gerade mal sieben Grad an. Nicht unbedingt das schönste Wetter, um länger draußen auf einer Bank zu verweilen. Schlierkamp hat dafür aber einen guten Grund: An diesem Tag hat die sie ihre erste Schicht als ehrenamtliche Zuhörerin.
Zwei Stunden lang wird die 66-Jährige nun auf der Bank sitzen und auf Menschen warten, die jemanden zum Reden brauchen. Schlierkamp ist gespannt, was sie erwartet. "Ich fühle mich wohl. Ein bisschen aufgeregt innerlich", sagt die Rentnerin. "Erzähl mir was" heißt die neue Initiative in Warendorf. Das Projekt möchte unter anderem Menschen erreichen, denen jemand fehlt, der ihnen einfach mal zuhört.
Mehr als 30 Ehrenamtliche machen bei der Initiative in Warendorf mit und wurden für ihre neue Aufgabe extra geschult. Sie haben sich theoretisch und praktisch mit dem Thema Zuhören, ihrer eigenen Rolle und ihren Grenzen innerhalb des Projekts auseinandergesetzt. Das können zum Beispiel Menschen sein, die sich allein oder isoliert fühlen. Die Initiative ist von der Stadt, den Kirchen und mehreren sozialen Einrichtungen ins Leben gerufen worden.
Mehr Einsamkeit seit Corona
Die Zuhör-Bänke richten sich an alle Menschen in Warendorf, egal welches Alter sie haben. "Einfach zuhören und dem Menschen spiegeln, was er gerade gesagt hat", darum geht es bei dem Projekt, sagt Mitinitiatorin Petra Schürmann. Laut Schürmann ist gerade durch die Coronapandemie viel Einsamkeit entstanden. Eine Entwicklung, die nicht nur Warendorf betrifft. Dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zufolge belegen mehrere Studien einen "deutlichen Anstieg von Einsamkeitsgefühlen in der Bevölkerung". Am stärksten seien diese Gefühle bei jungen Erwachsenen und sehr alten Menschen. Mit Blick auf den demografischen Wandel gehen Experten davon aus, dass das Thema Einsamkeit auch in den kommenden Jahren eine große Rolle spielen wird.
Um gegen diese Einsamkeitsgefühle anzugehen, setzt sich Gertrud Schlierkamp ab jetzt regelmäßig auf eine Zuhör-Bank und wartet auf Menschen mit Redebedarf. Vor ihrer Rente hat sie als Kindererzieherin gearbeitet. "Ich denke, ich kann sehr gut zuhören."
Bänke sind kein Therapie-Ersatz
Eine Art Lebensberatung oder Therapieersatz soll und will das Angebot nicht sein. Inspiriert wurde das Projekt in Warendorf von der Stadt Düsseldorf. Dort gibt es schon seit dem vergangenen Jahr Zuhör-Bänke, die in bestimmten Stadtvierteln zum Gespräch einladen. Die Idee hat Schürmann so gut gefallen, dass sie sie mit nach Warendorf gebracht hat. "Auch hier gibt es viel zu wenig Möglichkeiten sich zu unterhalten. Einfach etwas zu erzählen", sagt sie. Einige Monate und einen Arbeitskreis später gibt es nun die Erzähl-Bänke in der Stadt.
Eine halbe Stunde lang sitzt Gertrud Schlierkamp schon auf der stählernen Sitzbank. Bisher ist das neongrüne Sitzkissen neben ihr freigeblieben. Um sich ein bisschen aufzuwärmen, steht sie auf und läuft ein paar Schritte. Dann holt sie eine Thermoskanne aus ihrer Tasche. Heißer Kaffee für die innere Wärme. Aber von Langeweile kann keine Rede sein: "Wenn niemand kommt, beobachte ich die Menschen, ich beobachte die Natur. Ich bin gerne draußen." Sie möchte Interesse an ihrer Umwelt ausstrahlen.
Dann lässt sich endlich jemand neben der ehrenamtlichen Zuhörerin nieder. Eine Passantin ist neugierig, was es mit dem Projekt auf sich hat. "Und jetzt kann man so erzählen, was man gerne loswerden möchte?", fragt sie. Schlierkamp nickt und erklärt das Konzept.
Später macht eine weitere Frau vor Schlierkamps Zuhör-Bank Halt. Sie ist allerdings in Eile, muss noch arbeiten. Die Frau hätte ein Thema, über das sie gern mal sprechen würde: Wie damit umgehen, wenn die Rente kommt und ein großer Teil des bisherigen Lebens wegfällt? Jetzt muss sie aber schnell weiter. "Ein anderes Mal sehr gerne", sagt sie.
In Warendorf wartet nun täglich irgendwo in der Stadt eine Zuhör-Bank. Das Erkennungszeichen? Natürlich die neongrünen Sitzkissen. Mittlerweile ist es 11 Uhr und Gertrud Schliekamp geht nach Hause. Auch wenn an diesem Tag noch nicht viel los war, ist sie zufrieden. "Es muss sich ja auch erst rumsprechen."
Über dieses Thema berichteten wir auch im WDR-Fernsehen am 19.04.2023: Lokalzeit Münsterland, 19.30 Uhr.