"Ich musste erstmal lernen, wie es auf der Straße läuft"

Bonn | Füreinander

Stand: 19.05.2023, 08:59 Uhr

Eine Stadt durch die Augen eines obdachlosen Menschen sehen - darum geht es bei den Stadtführungen des Vereins "Stadtstreifen" in Bonn. Melanie ist eine der ehrenamtlichen Stadtführerinnen. Sie hat lange auf der Straße gelebt. Wie war das für sie? Ein Protokoll.

Von Jana Brauer (Protokoll) und Nadja Heckelsberg (Multimedia)

Das Leben auf der Straße ist gefährlich. Vor allem als Frau hast du es nicht nur mit Gewalt zu tun, sondern auch mit sexuellen Übergriffen. Ich musste erstmal lernen, wie es auf der Straße läuft, wie ich es schaffe, zu überleben. Zum Beispiel in der Nacht. Am Anfang habe ich mich auch mal mit den falschen Leuten zusammengelegt, aber daraus lernst du.

Wenn ich heute eine meiner Stadtführungen für den Verein "Stadtstreifen" in Bonn gebe, stelle ich mich erstmal vor, zum Beispiel so: "Hallo erstmal, Melanie mein Name." Seit fünf Jahren lebe ich jetzt hier. Viereinhalb Jahre davon habe ich auf der Straße verbracht. Jetzt zeige ich anderen, wie mein Tag damals so ablief, wie ich auf der Straße überleben konnte und erzähle, wie sich das angefühlt hat.

Ein typischer Tag ist bei mir so abgelaufen: Morgens Frühstück in einer sozialen Einrichtung. Dort kam auch meine Post hin. Mittags habe ich mich dann auf den Weg in die Stadt zu meinem Stammplatz vor einem Supermarkt gemacht. Da bin ich dann bis zum Abend geblieben und habe versucht, Geld zu sammeln. Nach "Feierabend" habe ich mich mit anderen getroffen. Ein bisschen quatschen, Abendbrot essen und dann so um 22 Uhr ging es auf Schlafplatzsuche.

Von November bis April dürfen obdachlose Menschen in Bonn in U-Bahn-Stationen schlafen. Gerade im Winter ist es dort am wärmsten und sichersten, und vor allem ist es wind- und regengeschützt. An manchen Tagen haben wir auf der Zwischenebene einer Haltestelle mit 25 bis 30 Menschen geschlafen. Das roch dann nicht mehr so besonders gut. Es gibt immer wieder jemanden, der meint, die Toilette ist direkt neben dem Bett.

In den Stationen gibt es auch Notrufsäulen, die sind super. Die haben mir auch schon mal den Arsch gerettet. Da kamen drei Männer auf mich zu und man sah, was die vorhatten. Wenn wir ab April dann nicht mehr in den Stationen übernachten dürfen, wird es schwieriger.

Vor meiner Zeit auf der Straße habe ich als Verkäuferin in einer Bäckerei gearbeitet. Doch dann kam eine persönliche Krise. Zuerst habe ich meinen Job verloren, dann meine Wohnung. So bin ich auf der Straße gelandet.

Mit den Stadtführungen möchte ich darüber aufklären, wie es ist, obdachlos zu sein. Ich möchte, das Leben von Obdachlosen sichtbarer machen und vor allem Vorurteile abbauen. Denn ich sage immer: Obdachlos werden - das kann jedem passieren. Kein Mensch ist mehr oder weniger wert. Wir sind alle Menschen und wir sind alle gleich, das ist mir besonders wichtig.

Aber wenn du obdachlos bist und deine Tage auf der Straße verbringst, gibt es viele Probleme und Herausforderungen. Selbst aufs Klo gehen ist schwierig. Es gibt viel zu wenige öffentliche Toiletten. Und mir ist es auch schon passiert, dass ich für eine Toilette bezahlt habe, dann aber doch nicht drauf durfte. Die Begründung: Ich würde das Klo benutzen, um Heroin zu spritzen, oder ich würde dort einziehen wollen. So diskriminiert zu werden, ist traurig.

Mittlerweile habe ich wieder eine Wohnung und muss nicht mehr draußen schlafen. Tagsüber findet ihr mich aber immer noch an meinem Stammplatz. Ich wünsche mir, dass wir alle mehr aufeinander aufpassen. Dass jeder gesehen und niemand übersehen wird. Denn das passiert leider viel zu oft und zu schnell.