Als Angela Müllers die aus Armenien geflüchtete Tefonia Avagyan entdeckt, nimmt sie ihr sofort ihre Jacke ab und umarmt sie herzlich. Sie wirken wie Freundinnen. Und vielleicht sind sie das auch ein bisschen. Im Ehrenamt verschwimmt die Grenze zwischen Bedürftigen und persönlichen Kontakten mitunter. Auch das hat wohl dazu beigetragen, dass Avagyan in Nettetal eine neue Heimat gefunden: "Ich komme so gerne hier her. Ich kann Angela alles fragen, sie hilft mir immer", sagt Avagyan, die gerade einen Deutschkurs belegt. "Ich kann hier Deutsch sprechen und Menschen kennenlernen, das ist toll."
"Alle an einem Tisch" in Nettetal: Für mehr Gesellschaft
Seit gut sechs Jahren gibt es das Projekt "Alle an einem Tisch!". Es richtet sich an alle, die sich nach ein bisschen Gesellschaft und Unterstützung sehnen. Entstanden aus einem Flüchtlingshilfsprojekt, werden die Ehrenamtlichen heute von der Tafel und der Kirche unterstützt. Das Essen ist für die Gäste kostenlos, die Lebensmittel sind spendenfinanziert. Neben einem Frühstück gibt es auch ein warmes Mittagessen. Wer das Angebot in Anspruch nehmen möchte, muss sich einige Tage vorher anmelden. Einmal im Monat kommt eine Friseurin und schneidet kostenlos die Haare.
Eine halbe Stunde, bevor Gäste wie Tefonia Avagyan in das Gemeindehaus der evangelischen Kirche kommen, laufen für Angela Müllers und ihr Team die Vorbereitung auf Hochtouren. "Heide, kannst du einmal nach den Eiern schauen?", ruft Angela Müllers durch die kleine Küche. Die 67-Jährige trägt eine blau-weiß karierte Schürze, Brille, schulterlange graue Haare und gerade hat sie einen Stapel Teller in der Hand. "Ich decke schon mal den Tisch, wir haben ja nicht mehr so viel Zeit." Um 9 Uhr öffnen sich die Türen.
"Alle an einem Tisch" ist keine klassische Tafel. "Wir wollen, dass die Leute sich wie zu Hause fühlen, alle sind willkommen. Es kommen Bedürftige hier aus dem Viertel, Menschen, die einsam sind, Flüchtlinge, manchmal auch Obdachlose", erklärt Müllers, während sie die Tische mit Blumen dekoriert. Wenig später sitzen rund 30 Menschen auf den hellbraunen Holzstühlen im Gemeindesaal.
Nicht alle, die zum Frühstück nach Nettetal kommen, sind bedürftig. Doch Angebote wie "Alle an einem Tisch" werden in NRW für immer mehr Menschen überlebenswichtig. 18,7 Prozent der Menschen in NRW galten 2022 nach Zahlen des Landes als armutsgefährdet. Zehn Jahre zuvor waren es nur 15,4 Prozent. Betroffene haben Schwierigkeiten, alltägliche Dinge, wie regelmäßige, gesunde Mahlzeiten oder auch Freizeit zu finanzieren. Angebote wie die Tafeln sind in den letzten Jahren immer stärker in Anspruch genommen worden. Ein Drittel mehr Kunden haben die Tafeln in Deutschland zum Beispiel im letzten Jahr gezählt.
Es geht um Zusammenhalt
Es ist Mittag geworden im Gemeindezentrum. Angela Müllers und ihr Team haben die Tische abgeräumt und neu gedeckt. Es gibt jetzt Mittagessen. "Ich habe selbst vier Kinder großgezogen und weiß, wie wichtig die Gemeinschaft ist, gerade beim Essen", erklärt Müllers.
Eine ältere Frau schiebt ihren Rollator durch die Tür, gefolgt von einer Frau mit langem Kleid und Kopftuch. "Mir ist es wichtig, die Menschen zusammenzubringen. Nur so geht Integration, eben alle an einem Tisch", sagt Müllers und lacht. "Jeder Mensch braucht so einen Ort. Wenn ich sehe, wie glücklich hier alle sind, dann weiß ich, dass ich das Richtige tue."
- Übrigens: Wer selbst jemanden für den Ehrwin des Monats vorschlagen möchte, kann dies unter diesem Link tun.
Über dieses Thema haben wir auch am 30.03.2024 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit am Samstag, 19.30 Uhr