Silke Gestricht öffnet den Kofferraum ihres Autos und lässt ihre Hündin Tessa heraus. "Wir holen jetzt den Yoro ab", sagt sie mit freudiger Stimme und leint den Vierbeiner an. Als sie zum Eingang der Schule laufen, kommt ihnen der Achtjährige schon entgegen. Yoro und Gestricht umarmen sich herzlich.
Beide sind ein eingespieltes Team. Gemeinsam gehen sie den Gehweg an der Schule vorbei, Gestricht wuschelt Yoro durch die Haare. Wer es nicht besser weiß, könnte tatsächlich denken, hier schlendern Oma und Enkel. Seine echte Oma hat Yoro aber nie kennengelernt. Gestricht ist eine "Großmutter auf Zeit" - vermittelt vom Familienkreis Bonn. Seit 2017 ist sie festes Mitglied der Familie Jussen und unterstützt Yoros Mutter im Alltag.
Was ist "Großeltern auf Zeit"?
"Großeltern auf Zeit" ist eine Initiative des Familienkreises Bonn. Kinder, deren leibliche Großeltern bereits gestorben sind, zu weit weg wohnen oder die unter komplizierten Familienverhältnissen leiden, bekommen so die Chance, regelmäßigen Kontakt zu Menschen der älteren Generation aufzubauen. Die Leih-Großeltern werden im besten Fall langfristige Bezugspersonen.
Beim Kennenlerngespräch werden den interessierten Eltern die "Großeltern auf Zeit" vorgestellt und die Teilnahmebedingungen erläutert, dabei erfahren die Mitarbeitenden der Initiative auch die Familiensituation. So können sie die passenden Leih-Großeltern finden. Die Kinder dürfen zum Zeitpunkt der Vermittlung nicht älter als zehn Jahre alt sein, die Leih-Großeltern sollten 55 Jahre oder älter sein. Für die Vermittlung fällt eine einmalige Gebühr von 30 Euro an.
Übernachtungen bei "Oma"
Eigentlich ist jeden Mittwoch "Silketag". An Schultagen holt die 62-Jährige Yoro ab, zuerst machen sie Hausaufgaben, anschließend wird ausgiebig gespielt. Am liebsten geht Yoro mit Gestricht und Hündin Tessa im Wald spazieren. Mit dem Vierbeiner liefert er sich auch mal ein Wettrennen. Am Abend geht es ruhiger zu. Gestricht weiß, was dem Achtjährigen guttut.
Diesmal haben beide einige Tage am Stück zusammen verbracht. Yoros Mutter Birgit Jussen arbeitet für das Entwicklungsministerium. Ein anstrengender Job mit Dienstreisen. Deshalb ist Yoro seit drei Tagen bei Gestricht, seine Mutter musste zur Geschäftsreise nach Berlin.
Den Beruf und die Rolle als Mutter unter einen Hut zu bringen, ist nicht immer leicht für Jussen. Silke Gestricht sei ihr eine riesige Hilfe, betont sie. Yoro und Gestricht hatten schnell einen guten Draht zueinander.
Bewährungsprobe Benin
2017 hat der WDR die Jussens schon einmal besucht. Mutter Birgit sagte damals über die schicksalhafte Begegnung mit Silke Gestricht:
Der Kontakt zwischen Yoro und Gestricht ist nach sieben Jahren noch immer sehr eng. Obwohl Birgit und Yoro Jussen 2019 für drei Jahre nach Benin in Westafrika ziehen, 4.600 Kilometer von Bonn entfernt. Leihoma Gestricht erinnert sich: "Ich war völlig fertig und habe nur noch geheult. Ich habe gesagt: 'Das kann sie doch nicht machen. Sie kann doch nicht mit dem Jungen nach Westafrika gehen.'" Yoro habe ihr daraufhin geantwortet: "Ich gehe nach Benin. Aber Silke, jeden Mittwoch komme ich weiter zu dir.'"
Trotz der Entfernung bleiben sie in Kontakt, per Videotelefonie. Mittlerweile sind die Jussens zurück in Köln. Wenn man die Vertrautheit bei Gestricht und Yoro sieht, könnte man meinen, die Familie sei nie weg gewesen.
Als Yoro von seiner Mutter am Abend abgeholt wird, freut sich Gestricht zwar darauf, einmal durchatmen zu können. Trotzdem: Ein Leben ohne ihre Leihoma-Rolle kann sie sich nicht mehr vorstellen. "Ein Kind groß werden zu sehen, die Lebensphasen zu begleiten, das ist einfach sehr, sehr schön", sagt die 62-Jährige.
Über das Thema haben wir am 20.11.2023 auch im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit aus Bonn, 19.30 Uhr.