Am liebsten würde Jan sofort die Wand hochklettern. Damit der Neunjährige beim Aufstieg nicht in die Tiefe stürzen kann, muss er vorher seinen Klettergurt richtig befestigen. Von der Decke hängt ein dickes, blaues Seil. Geschickt bindet er damit einen Achterknoten und macht es an seinem Gurt fest. Jan muss sich dabei konzentrieren. Das fällt ihm schwer, zumindest über längere Zeit. Der Neunjährige hat ADHS. Aber hier, in der Kletterhalle Bronx Rock in Wesseling im Rhein-Erft-Kreis, soll er es gemeinsam mit fünf anderen Kindern lernen.
Laut Bundesministerium für Gesundheit leiden etwa zwei bis sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter Aufmerksamkeitsstörungen oder motorischer Unruhe. Typische Symptome von ADHS sind ein übersteigerter Bewegungsdrang, schlechte Konzentration und unüberlegte Handlungen, können jedoch von Kind zu Kind sehr unterschiedlich sein. Bleibt ADHS unbehandelt, geht dies laut dem Ministerium häufig mit Problemen in der Schule und der Familie einher. Außerdem bestehe eine erhöhte Suchtgefahr.
Therapie für Geist und Körper
Um die Störung in den Griff zu bekommen, war Jan auch schon bei der herkömmlichen Ergotherapie in der Praxis. Die hat ihm aber nicht geholfen. Sein enormer Bewegungsdrang machte es ihm beinah unmöglich, in einem Praxisraum an einem Tisch zu sitzen und stillzuhalten. In der Kletterhalle fühlt er sich wohler. Zu Beginn jeder wöchentlichen Einheit schreiben die Kinder in ihre Tagebücher, welche Ziele sie an diesem Tag erreichen wollen. Jan will in den nächsten anderthalb Stunden "Spaß haben, bei mir bleiben, nicht mit anderen Kindern quatschen, fünf Routen klettern und zweimal den Partner beim Klettern sichern."
Seit 2012 bietet der Verein in Köln Klettern als besondere Form der Ergotherapie an. Gegründet haben ihn Lisa Döhrer und Katharina Mehta. Beide bezeichnen sich als "Vollblut-Kletterinnen" und sind ausgebildete Ergotherapeutinnen. Ihre Arbeit als Ergotherapeutinnen rechnen sie über die Krankenkasse ab, für alles Weitere sind sie auf Spenden und Stiftungen angewiesen. Eltern müssen nur einen kleinen Beitrag bezahlen.
Was kostet die Klettertherapie?
Die Klettertherapie gilt als ergotherapeutische Kassenleistung. Wenn der Arzt also die Ergotherapie verordnet und ein Rezept ausstellt, kommt die Krankenkasse bei Kindern bis 18 Jahren für die Therapie auf. Bei Personen über 18 Jahren wird eine Zuzahlung fällig. Der Eintritt in die Kletterhalle muss in jedem Fall selbst bezahlt werden: Kinder bis 5 Jahre zahlen 6 Euro, Kinder von 6 bis 12 Jahren 8,50 Euro und Jugendliche von 13 bis 17 Jahren 9,50 Euro.
Hilfe bei ADHS, Depressionen oder Autismus
Döhrer und Mehta nutzen den Sport, um Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit verschiedenen Erkrankungen zu behandeln. Das kann wie in Jans Fall ADHS sein, aber die Klettertherapie eignet sich zum Beispiel auch bei Menschen mit Autismus und Depressionen oder als Präventions-Maßnahme gegen Rückenbeschwerden. Warum das gerade bei Kindern so gut funktioniert, erklärt Lisa Döhrer.
Die Therapiegruppen richten sich nach der Art der Erkrankung. Jan und die anderen Kinder haben alle Probleme, sich zu konzentrieren. Deswegen bekommen sie zu Beginn eine Pappe mit einem Zeiger, der auf einer Skala von eins bis zehn beweglich ist. Jedes Kind schätzt seinen "Motor" auf dieser Skala ein. Bei eins ist man sehr müde, bei zehn äußerst aufgeregt. Fünf ist als Mittelwert optimal, dann ist man ausgeglichen. Bei Jan ist der Motor in der Kletterhalle häufig zu weit oben. Er geht dann vor die Tür, um sich selbst herunterzufahren.
Begehrte Plätze, lange Warteliste
Nach dem Aufwärmen machen Jan und die anderen Kinder spezielle Übungen, um ihre Konzentration zu verbessern. Die Therapeuten leiten sie an: "Mit der linken Hand und den Füßen sucht ihr euch einen blauen Griff an der Kletterwand, mit der rechten Hand sucht ihr euch etwas Gelbes. Und dann drei Sekunden halten." Die Kletterhalle sei ein perfekter Therapieort, sagt Lisa Döhrer. "Hier ist immer viel Trubel, es gibt viele Reize von außen."
Einmal in der Woche fährt Jans Mutter Judith Kernenbach ihren Sohn knapp 40 Minuten von ihrem Wohnort im Ahrtal in den Rhein-Erft-Kreis. Zuvor stand Jan anderthalb Jahre auf der Warteliste, bis er endlich mitmachen konnte. Die Wartezeit habe sich aber gelohnt, ist Kernenbach überzeugt. "Jan merkt gar nicht, dass er beim Klettern gleichzeitig eine Ergotherapie macht. Das ist genau das, was er braucht." Ihr Sohn lerne beim Klettern viel: "Regeln einhalten, sich abzusprechen, Verlässlichkeit, Geduld."
Fortschritte machen lohnt sich. Für jedes Ziel, das die Kinder erreichen, sammeln sie Punkte. Die können sie später gegen verschiedene Aktivitäten eintauschen, zum Beispiel den Besuch einer Höhle.
Am Ende jeder Stunde bewerten die Kinder, ob sie ihre selbst gesteckten Ziele erreicht haben. Jan ist zufrieden: "Ich habe Spaß gehabt und es geschafft, bei mir zu bleiben. Ich habe heute also alles geschafft." Fünf Runden ist er geklettert und gesichert hat er auch zweimal. Dafür möchte er genau "einen Applaus". Also klatschen alle Kinder und Betreuer einmal in die Hand.
Über das Thema haben wir auch am 06.03.2024 im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit aus Köln, 19.30 Uhr.