Taubenschlag im Wohnhaus? Eine Erfolgsgeschichte aus Gelsenkirchen

Gelsenkirchen | Füreinander

Stand: 05.12.2023, 12:08 Uhr

Antonia Roth füttert jeden Tag bis zu 75 Tauben auf ihrem Dachboden. Mitten im Gelsenkirchener Wohngebiet und trotz Widerstand in der Nachbarschaft. Bilanz nach dem ersten Jahr.

Von Agata Pilarska

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Wie man einen Taubenschlag eröffnet

Antonia Roth schließt die Tür zum Spitzboden auf. 30 Tauben warten dahinter auf ihr Frühstück. "Da seid ihr ja", begrüßt Roth die Vögel. "Gleich, wenn es Futter gibt, werden es noch mehr." Bis zu 75 Tauben hat sie schon gezählt. Roth holt einen Rollator mit einer Art Tablett aus der Ecke. "Den hat mein Mann für mich umgebaut. Sieht blöd aus, ist aber eine große Hilfe." Rücken, Hüfte und Beine tun ihr weh. Trotzdem nimmt sie zwei Mal in der Woche die 52 Stufen aus ihrer Hochparterre-Wohnung in Kauf, um die Tiere mit Körnern und Wasser zu versorgen. Roth öffnet das Gatter und beginnt, die schweren Trinkgefäße aus Glas mithilfe des Rollators einzusammeln.

Fütterungszeit im Taubenschlag 00:28 Min. Verfügbar bis 05.12.2025

Tauben gelten als "Ratten der Lüfte", sollen Krankheiten übertragen, ihr Kot soll Bausubstanz und Autolack zerstören. Bis zu zwölf Kilo Nasskot produziert ein einzelnes Tier im Jahr. Roth weiß um die Unbeliebtheit und die vielen Vorurteile Tauben gegenüber. Viele Nachbarn schütteln mit dem Kopf. Dabei würden sie sich weniger über Tauben ärgern müssen, wenn es mehr Menschen wie Antonia Roth gäbe.

Die Anfänge

Roth ist 63 Jahre alt und Diplom-Sozialpädagogin und -arbeiterin. In einem Verein für Straffälligenhilfe unterstützt sie Menschen, die aus dem Gefängnis entlassen werden. Roth hat Tauben schon immer geliebt. Ihr Opa war Taubenzüchter. Umso mehr schmerzte es sie, dass sich niemand in Gelsenkirchen um die Tauben gekümmert hat.

Sie schlug ihrem Vermieter vor, den Schalker Tauben ein artgerechtes Zuhause zu schaffen. Die Wohnungsgesellschaft stimmte zu ihrer Überraschung tatsächlich zu – vorausgesetzt, sie gründet einen Verein dafür. Seitdem ist sie Vorsitzende der "Schalker Täubchen". Der Ausbau des Dachbodens wurde von der Wohnungsgesellschaft bezahlt. Roth stemmt mit 14 Mitgliedern, ein paar Gelegenheitshelfern und der Unterstützung ihrer Tochter die Versorgung der Tiere. "Meine Tochter ist kein Fan, aber mir zuliebe füttert sie die Tauben."

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Nicht jeder mag Tauben

Die Wassertränken sind inzwischen mit frischem Wasser und einem Schluck Apfelessig gefüllt. Das soll Infektionen vorbeugen. Pfeifend füllt Roth die Futterraufen mit einer Mischung aus Körnern, Mais und mineralhaltigen Zusätzen. Ein paar weitere Tauben fliegen durch den Einflug und stürzen sich auf die Mahlzeit.

Fünf 25-Kilo-Säcke verschlingen die Vögel monatlich. Etwa 20 Euro kostet ein Sack. Roth finanziert das Futter vor allem durch Spenden. Wenn das Geld nicht reicht, zahlt sie die Futtersäcke aus eigener Tasche. Noch ist sie nicht in Rente. Noch tut ihr das nicht weh.

"Ein Nachbar hat mir Schläge angedroht"

Im Herbst 2022 hat Roth den Schlag eröffnet. Für kurze Zeit hatte sie eine Sondererlaubnis, die Tauben auf der Straße zu füttern, um die Tiere in ihr neues Zuhause zu locken. Das ist eigentlich verboten. "Ein Nachbar hat mir hinterhergeschrien und Schläge angedroht", erinnert sie sich. "Aber wir sind nicht mehr Thema Nummer Eins. Vielleicht merken die Leute, dass es besser wird."

Bis zu 75 Tauben hat Antonia Roth schon in ihrem Taubenschlag gezählt | Bildquelle: WDR/Agata Pilarska

Dass Tauben als Schädlinge gelten, kann Roth nicht verstehen. Die Tiere übertragen nicht mehr Krankheiten als Spatzen, Meisen und Amseln. Auch die Ausscheidungen auf Autoscheiben und Häusern sind zum Teil ein vom Menschen gemachtes Problem. Tauben finden nicht genug zu fressen und nehmen, was sie kriegen können. Die flüssige Ausscheidung bezeichnet Roth als "Hungerkot". Fressen Tauben artgerecht, wird das Häufchen klein, fest und dadurch leichter entfernbar.

200 Kilo Taubenkot

Mit Taubenkot kennt sich Roth inzwischen aus. Täglich werden die Ausscheidungen aus dem Taubenschlag entfernt und gewogen. Bis Ende Oktober sind 203 Kilo zusammen gekommen. 203 Kilo weniger auf den Straßen, Autoscheiben und Häusern Gelsenkirchens. Durch die tägliche Reinigung und die permanente Frischluftzufuhr am Einflug riecht es kaum auf dem Dachboden.

Noch mehr Tauben und noch mehr Kacke – das war wohl die größte Sorge der Anwohner. Dabei geht Roth aktiv gegen die Vermehrung der Tauben vor. Sie kontrolliert die Nistplätze, bestehend aus gepolsterten Tonschalen in einem Ikea-Regal. Kein Ei heute. Hätte sie eins entdeckt, wäre es gegen ein Gips-Ei ausgetauscht worden. So wird die Population eingedämmt. 53 Eier hat der Verein in einem Jahr entfernt. Ab und zu lässt Roth ein Küken schlüpfen, weil die Tauben sich sonst nicht im Schlag ansiedeln. "Die Tauben sollen nicht mehr werden, aber es soll ihnen gut gehen", sagt Roth. Sie sitzt am Rande des Schlags auf einem Stuhl und dokumentiert in einem Notizbuch, was sie heute erledigt hat. "Manchmal sitze ich hier eine halbe Stunde und beobachte einfach nur. Das ist wie Meditation für mich."

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Taubenliebe von klein auf

Ursprünglich wurden Tauben wegen ihres ausgeprägten Orientierungssinns als Nachrichtenübermittler in Kriegen benutzt. Vor allem in den 1960er-Jahren wurde die Brieftaubenzucht zu einem beliebten Hobby. Mehr als 100.000 Brieftaubenzüchter gab es deutschlandweit. Im dicht besiedelten Ruhrgebiet erfreuten sich besonders die Bergleute am "Rennpferd des kleinen Mannes". Freie Vögel, die den Tag an der frischen Luft verbringen – einen größeren Kontrast zur Arbeit Untertage konnte es wohl kaum geben. Die UNESCO hat die Brieftaubenzucht 2018 als immaterielles Kulturerbe in NRW erklärt, seit 2022 gilt das auch bundesweit.

Antonia Roth war schon als kleines Kind von Tauben begeistert | Bildquelle: WDR/Agata Pilarska

Ob Zucht- oder Straßentaube: Das ist Roth egal. Als sie in der Grundschule war, hat sie zum ersten Mal mit Unterstützung ihrer Mutter eine verletzte Taube aufgepäppelt. Sie wusste von ihrem Großvater, wie das geht. Heute versorgt sie gelegentlich verletzte Vögel in ihrer Wohnung. Zurzeit sind es zwei Jungtauben.

Wie Antonia Roth Pflegetäubchen Prepper aufpäppelt 00:45 Min. Verfügbar bis 05.12.2025

Wenn sie wieder gesund sind, dürfen auch sie sich im Schlag ansiedeln. Roth hat außerdem vier Katzen und einen Hund. "Ich komme von der Arbeit, versorge alle Tiere, habe dann zwei Stunden für mich, versorge wieder die Tiere und gehe schlafen", sagt sie ohne klagenden Unterton. Familienurlaub hat es aber lange nicht mehr gegeben: "Ich brauche das nicht. Mir reicht Urlaub mit den Tieren zuhause."