Lieblingsort Turnverein: "Hier kann ich in eine fröhliche Welt eintauchen"
Stand: 04.09.2024, 06:25 Uhr
Tagsüber Kinder retten, abends mit Kindern turnen und nachts Geld für den Turnverein beschaffen. Rokya Camara schläft wenig. Kraft zieht sie aus ihrem Ehrenamt beim TGV Bonn.
Von Florian Vitello
Ein Ort des Glücks
Wenn Rokya Camara ihre Schicht beendet, hat sie nicht selten zuvor einer Mutter oder einem Vater sagen müssen, dass ihr Kind sterben wird. Die 49-jährige Oberärztin der Neonatologie und pädiatrischen Intensivmedizin im Bonner Marienhospital brennt für ihren Beruf, doch der kann mitunter traurig und kraftraubend sein. Sie muss professionell auftreten, aber dabei menschlich bleiben. "Ich nehme Angehörige auch mal in den Arm, sage ihnen, dass sie gute Eltern waren. Dafür muss ich auch einen Teil von mir preisgeben."
Nach einem solchen Tag dreht sie laut Musik auf und fährt zur Turnhalle des TGV Bonn in Hardtberg. Hier betritt sie ihren persönlichen Ort des Glücks: An einem Ende der Halle dreht kopfüber der Nachwuchs am Reck. Dahinter holen die Leistungsturnerinnen aus zu Salto und Schraube hoch in der Luft. Mittig üben die Mehrkämpferinnen grazile Handstand-Drehungen am Schwebebalken. Am anderen Ende der Halle bewegen die restlichen Turnerinnen ihre Körper rhythmisch zu moderner Musik. Wo Camara auch hinkommt, wird sie herzlich begrüßt. "Hier kann ich eintauchen in eine fröhliche Welt, die viel Arbeit macht, aber die lebendig ist."
Das letzte Training vor dem Turnier
00:25 Min.. Verfügbar bis 04.09.2026.
Vollzeit-Ehrenamt neben einem Vollzeit-Job
"Viel Arbeit" ist eine der häufigen Untertreibungen, die Camara bemüht, wenn sie über ihr Engagement redet. Sie übernahm die Rolle der sportlichen Koordinatorin des Turnvereins vor etwa einem Jahr von Uschi Klein und trat damit in große Fußstapfen. Die 72-Jährige hatte den TGV vier Jahrzehnte mit aufgebaut, wettkampffest gemacht und war unter anderem für ihr Lebenswerk vom Landessportbund Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet worden. Camara übernimmt neben ihrem überstundenintensiven Hauptberuf ein Ehrenamt, das Klein seinerzeit Vollzeit ausgeübt hatte.
WDR-Thementag: Vereinsleben
NRW ist geprägt von einer lebendigen Vereinslandschaft, die das soziale und kulturelle Leben in den Städten und Gemeinden maßgeblich mitgestaltet. Vom Sportverein über Kultur- und Musikvereine bis hin zu gemeinnützigen Organisationen. Am 4. September stehen deswegen die Vereine beim WDR im Netz, im Radio und im TV im Fokus. Um 22.15 Uhr läuft außerdem im WDR-Fernsehen die Doku: Tod im Vereinsheim? Wie Vereine ums Überleben kämpfen.
"Eigentlich wollte ich nur wie immer meine Tochter zum Training bringen, da stand Uschi plötzlich neben mir und hat mich gefragt: 'Entlastest du mich?'" Gäbe es eine Ausschreibung für den Job, müsste sie unter anderem enthalten: Trainer akquirieren, den TGV Bonn mit anderen Vereinen vernetzen, zwischen Eltern vermitteln, Wettkämpfe und Kampfrichterinnen anmelden, Material beschaffen, Berichte für den Vorstand schreiben und Sichtungsturnen organisieren. "Wer in Deutschland turnen will, muss sich erst qualifizieren". Aktuell stehen 700 Interessentinnen auf der Warteliste des TGV. "Uns fehlen die Trainingsmöglichkeiten und die Trainer, um die, die älter sind als neun, auch im Spitzensport auszubilden."
Wie schwer ist Uschi Klein das Aufhören gefallen?
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Camaras erste Amtshandlung war es daher, die vielen unter Klein gewachsenen Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen. Auffällig ist etwa, dass sich die Turnerinnen, mit Ausnahme eines pensionierten Sportlehrers, selbst trainieren. Sie überlegen sich Figuren, üben gemeinsam, melden sich eigenständig zu den ungefähr zwanzig Wettkämpfen jährlich an und richten diese aus. Der Verein übernimmt die Kosten der Ausbildung. Die jungen Frauen würden so früh Organisation, Disziplin und Zusammenhalt lernen, sagt Camara. "Vor allem wird ein mehrgenerationelles Projekt aufgebaut, weil jede Turnerin sich nicht nur um sich selbst, sondern auch um den Nachwuchs kümmert."
Die Turnerinnen helfen sich gegenseitig
Camara liebt die fürsorgliche Vereinskultur, die über sportliches Mentoring hinausgeht. "Neulich hat sich meine Tochter beim Sport verletzt, am nächsten Morgen standen die Teamkolleginnen vor der Tür, mit Genesungswünschen und kleinen Geschenken." Auch, dass die Eltern der Turnerinnen überall aushelfen, berührt sie. Auf diese Weise entstehen Gemeinschaft und Freundschaften fernab der Wettkämpfe.
Im Einsatz für Nachhaltigkeit
Ein solcher Zusammenhalt fußt auf gegenseitigem Vertrauen, das Camara nicht zuletzt vom Vorstand erfährt. Obwohl sie relativ neu ist, ist er ihren Vorschlägen gegenüber stets offen. So gibt es inzwischen Mehrwegbecher, um Plastikmüll beim Training zu vermeiden. Zusätzlich stellte der Verein auf papierfreie Kommunikation um. Ein notwendiger Schritt in Richtung zeitgemäßer Öffentlichkeitsarbeit.
Dabei ist Camara eher schüchtern, steht nicht gerne im Rampenlicht. Gerade erst brachte sie auf ihrer Station im Marienhospital ein Frühchen zur Welt, das unter 400 Gramm wog. "Das passiert durchaus, aber faszinierend ist, dass das Kleine gesund überlebt hat." Mehrere private Fernsehsender berichteten, Camara war der Medienrummel unangenehm. Die sozialen Medien überlässt sie daher lieber ihren jungen Turnerinnen.
Der TGV Bonn hat trotz knapper finanzieller Mittel guten Erfolg bei Turnieren
Bei fast jedem Training ist die 49-Jährige, die lange auf den Malediven als Tauchärztin gearbeitet hat, in der Halle. Zur Not springt sie auch noch als Trainerin ein. Am liebsten sitzt sie aber nachts allein vor dem PC und entwickelt neue Ideen. Individualsportarten werden weniger stark gefördert als Mannschaftssportarten, doch die Herausforderung reizt sie. "Ich liebe es, aus den wenigen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, das Maximale herauszuholen." Das bisherige Ergebnis ist beachtlich: Trotz der klammen Kasse, brachte der TGV Bonn bisher Stadt- und Verbandsmeisterinnen, bundesweite und überregionale Pokalsiegerinnen, Mehrkampfmeisterinnen und sogar zwei NRW-Vizemeisterinnen hervor.
Ehrgeizige Ziele
Camaras neuester Coup war die erfolgreiche Bewerbung des TGV Bonn als Ausrichter der NRW-Ligawettkämpfe. 40 Mannschaften und insgesamt 300 Turnerinnen treten gegeneinander an. Es ist ungewöhnlich, dass ein so kleiner Verein den Zuschlag erhält.
Der TGV Bonn
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Zu zwölft mieteten die Ehrenamtlichen sich daher einen 7,5-Tonner und fuhren extra nach Spich, um einen wettkampfkonformen Boden zu leihen. "Eigentlich ist es peinlich für die Stadt Bonn, dass es so einen Boden gar nicht gibt. Das wäre grundlegend für locker 200 begabte Nachwuchssportler." Trotzdem engagieren sich alle Mitglieder, denn die Wochenendveranstaltung ist wichtig - für die Wettkampfturnerinnen geht es um den Klassenerhalt, der Nachwuchs soll sich von den Profis inspirieren lassen und Camara erhofft sich Aufmerksamkeit, um neue Ehrenamtler zu motivieren.
Uschi Klein findet nur lobende Worte für ihre Nachfolgerin
00:48 Min.. Verfügbar bis 04.09.2026.
Als Nächstes will sich Camara mit ihrem Team dafür starkmachen, dass Bonn ein Turnzentrum erhält. Ein solches würde die Talente aller Vereine der Stadt fördern und das Verletzungsrisiko der Turnerinnen verringern. Denn adäquate Turnzentren haben immer eine sogenannte Schnitzelgrube, eine Art Schwimmbad aus Schaumstoffteilen, in dem riskantere Sprünge geübt werden können. Bisher müssen die Turnerinnen dafür nach Bergisch Gladbach fahren. "Kreatives Finanzieren ist zwar spannend, aber es muss doch nicht sein, dass meine Mädels ihr Ferienlager durch Essensverkäufe bezahlen oder fürs Training quer durchs Land fahren." Uschi Klein macht sich keinerlei Sorgen, dass ihre Nachfolgerin auch dieses Ziel erreichen wird. "Ich habe mein Lebenswerk in so kompetente Hände gelegt, da kann ich entspannt kürzertreten."