Leben mit halbem Gehirn: Nele kämpft sich ins Leben

Duisburg | Füreinander

Stand: 09.02.2024, 12:06 Uhr

Wenn ein halbes Gehirn plötzlich besser ist als ein ganzes: Zunächst scheint Nele ein gesundes Kind zu sein. Dann wird bei ihr eine Fehlbildung des Gehirns festgestellt. Das Leben von Familie Korbach aus Duisburg ändert sich schlagartig.

Von Christian Richter

Die anderthalb Jahre alte Nele läuft durch das Wohnzimmer. Während andere Kinder in ihrem Alter selbst laufen, wird Nele von einer Gehhilfe, einem sogenannten Walker, gestützt. Am Kopf hat sie eine große Narbe, Überbleibsel der Operation aus dem April 2023, bei der Neles linke Hirnhälfte funktionell von der rechten abgetrennt wurde. Die Operation soll Nele ihr bestmögliches Leben ermöglichen. Wie das am Ende aussehen wird, kann niemand genau sagen.

Vor der Operation litt Nele an starken epileptischen Anfällen, eine Folge einer Fehlbildung ihres Gehirns. Die Diagnose "komplexe Hirnfehlbildung linkshemisphärisch" trifft ihre 32-jährige Mutter Julia Korbach und ihren 35-jährigen Vater Oliver im September 2022 wie ein Schlag. Für Trauer, Wut, Verzweiflung, Verstehen ist keine Zeit. Schnell rutschen sie "in eine Rolle des Funktionierens".

Wie Familie Korbach auf die Diagnose bei Nele reagiert hat 00:28 Min. Verfügbar bis 09.02.2026

Neles Hirnhälften werden getrennt

Nele war zu diesem Zeitpunkt anderthalb Monate alt und bis dahin unauffällig in ihrer Entwicklung. Alles deutete auf ein kerngesundes Kind hin. Neles ältere Brüder sind ebenfalls gesund. Aufgefallen ist Neles Erkrankung durch einen epileptischen Krampfanfall. "Wir konnten das erst nicht einordnen. Ich habe geistesgegenwärtig ein Video davon gemacht und die Ärzte haben uns später einen epileptischen Krampfanfall bestätigt", sagt Korbach.

Was passiert bei einer Hirnhälftentrennung (Hemisphärotomie)?

Bei einer Hemisphärotomie wird die fehlgebildete Hirnhälfte mit epileptischer Aktivität funktionell von der "gesunden" Hälfte abgetrennt, um sie vor den Schädigungen der Krampfanfälle zu schützen. Die Hirnhälfte verbleibt zwar im Kopf, hat aber keinerlei Funktion mehr. Voraussetzung für den Eingriff ist, dass nur eine Hälfte von der Erkrankung betroffen ist, dass die Anfälle weder medikamentös noch durch andere Maßnahmen behandelt werden können und dass eine Hirnhälfte bereits stark betroffen ist oder eine solche Schädigung absehbar ist. Folgen der Hemisphärotomie sind bei allen Patienten halbseitige Lähmungen sowie Sichtfeldeinschränkungen auf der Körperseite, die der abgetrennten Hirnhälfte gegenüberliegt.

Nele ist seit der Operation in ihrer kognitiven Entwicklung verlangsamt. Da die linke Hirnhälfte normalerweise die rechte Körperseite steuert, ist Neles rechte Körperseite zudem gelähmt. Laufen kann sie bislang nur mit ihrer Gehhilfe oder gestützt von ihren Eltern. Es gibt aber Hoffnung, dass sie irgendwann nicht mehr auf Hilfsmittel angewiesen sein wird. Eines der vielen "vielleichts" und "eventuells" in ihrer Entwicklung.

Die gibt es auch bei der Frage, ob Nele jemals sprechen können wird. Das Sprachzentrum sitzt bei den meisten Menschen in der linken Hirnhälfte, bei Nele ist diese funktionell abgetrennt. Deswegen arbeiten Julia und Oliver Korbach im Umgang mit ihrer Tochter hier und da schon mit Gebärdensprache. Wenn sie Nele fragen, ob sie etwas essen oder trinken möchte, machen sie entsprechende Gesten dazu.

Aufklärung über Instagram

Die Erfahrungen und den Alltag mit Tochter Nele teilt Korbach auf ihrem Instagram-Kanal. Ihr ist es wichtig, andere betroffene Menschen zu beraten und über das Leben ihrer Tochter nach der Hirnhälftentrennung aufzuklären. Neles Gesicht wird dabei nie gezeigt, zum Schutz.

Korbach hätte damals gerne selbst eine solche Beratung gehabt. Arztgespräche und Dokumente seien schön und gut, aber eher "steril", wie sie sagt. "Auf meinem Instagram-Account leiste ich Aufklärungsarbeit und nehme die Leute mit durch unseren Alltag – um zu zeigen, wie es als pflegende Familie ist, um vielleicht auch die Hemmschwelle abzubauen, Berührungspunkte zu schaffen und zu zeigen: Wir sind eine Familie, die jetzt ein behindertes Kind hat. Aber das Leben ist genauso schön!"

Ist Julia Korbach glücklich? 00:26 Min. Verfügbar bis 06.02.2026

Ehrenamtliche Beratung

Vom Krankenhaus bekommt Korbach andere Eltern vermittelt, die in ähnlichen Situationen sind. Telefonisch, aber auch im persönlichen Gespräch berät sie zum Beispiel zu verschiedenen Themen wie finanzieller Umstrukturierung, Schwerbehindertenausweis oder Pflegegrad fürs Kind.

Die Rückmeldungen, auch die digitalen, sind dabei "durchweg positiv". Sie bestärken Korbach, weiterzumachen. Für andere Menschen, aber vor allem für ihre Tochter Nele, ihr größtes Wunder.

Über dieses Thema haben wir am 08.02.2024 auch im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit aus Duisburg, 19.30 Uhr.