"Komm wenigstens mal vorbei"
Sarra Lejmi sitzt an einem ovalen Besprechungstisch im "Treffpunkt Stollenpark", einem Jugendzentrum in der Dortmunder Nordstadt. Hier spricht Lejmi normalerweise mit Jugendlichen über die Themen, die sie beschäftigen. Über die Situation in Gaza, den Rechtsruck in Europa und Polizeigewalt - nachdem 2022 ein jugendlicher Geflüchteter von der Polizei in der Nordstadt erschossen wurde. Sie ist wenige Minuten von hier aufgewachsen. In einem Stadtteil, der immer wieder als sozialer Brennpunkt bezeichnet wird, manchmal sogar als "No-go-Area".
Wer nach "Dortmund Nordstadt" im Internet sucht, findet als einen der ersten Treffer eine Seite der Polizei zum Thema Clankriminalität. Regelmäßig gibt es Polizeieinsätze gegen Clanstrukturen, Gewaltdelikte, illegalen Drogenhandel oder Prostitution. Knapp 60.000 Menschen leben im bevölkerungsreichsten Viertel der Stadt. 21,3 Prozent der Menschen waren 2021 laut Bundesagentur für Arbeit arbeitslos. Mehr als doppelt so viele wie im Rest der Stadt.
Wenn Lejmi über die Nordstadt spricht, merken Zuhörer schnell, dass es auch eine andere Perspektive auf den Stadtteil gibt. Eine, die weniger düster ist, die nach vorne schaut. Sie liebt das Viertel, kann sich nicht vorstellen, woanders zu leben: "Die Nordstadt ist multikulti, sie ist vielfältig und bunt." Statt vernichtender Urteile aus der Ferne zu fällen, sollten sich mehr Menschen ein eigenes Bild von der Nordstadt machen. "Wenn es dir dann nicht gefällt - okay. Aber komm wenigstens vorher mal bei uns vorbei", sagt die Mitte-20-Jährige.
Sich aktiv einbringen
Als Teenager verfolgt Lejmi politische Debatten im Fernsehen und sieht, wer über die politischen Geschicke des Landes entscheidet. "Ich hatte das Gefühl, dass eine junge und eine migrantische Perspektive fehlen." Vor fast zehn Jahren macht sie deshalb ein Praktikum im Jugendtreff "Stollenpark" und stößt dort auf das "Jugendforum Nordstadt". Heute ist sie dort Jugendsprecherin. Ehrenamtlich neben ihrem Wirtschaftsstudium.
Jugendforum Nordstadt
Das Jugendforum Nordstadt ist ein Projekt der Planerladen gGmbH und erhält Förderung vom Landschaftsverband Westfalen Lippe (LWL) sowie dem Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes NRW. Partner sind zudem die Bundeszentrale für politische Bildung und die Stadt Dortmund.
Seit 2007 will das Projekt Jugendliche zwischen 14 und 27 Jahren für Politik und Demokratie begeistern. Dafür besuchen sie unter anderem gemeinsam das Europaparlament in Straßburg oder das Anne-Frank-Haus in Amsterdam. Besonders prägend für Lejmi waren die Treffen mit Zeitzeuginnen und Überlebenden des Holocausts. Im September soll es in den Landtag nach Düsseldorf gehen. Seit sechs Jahren gibt es auch ein gemeinsames Fastenbrechen zum Abschluss des Ramadans.
Politische Bildung zum Selbermachen
Im Jugendforum will Lejmi den Jugendlichen zeigen, dass sie etwas verändern können, wenn sie sich aktiv einbringen. "Ich möchte die unterstützen, die nach mir kommen - denn die Jugendlichen sind die Zukunft", sagt sie. Gerade in der Nordstadt.
Der Migrationsanteil im Stadtteil ist hoch. Etwa 70 Prozent sind laut Stadt Dortmund Nichtdeutsche oder Deutsche mit Migrationshintergrund. Es gibt zahlreiche libanesische, türkische, syrische, eritreische, äthiopische und marokkanische Restaurants oder Shops. Viele Jugendliche im "Jugendforum Nordstadt" haben ebenfalls Migrationsgeschichte oder Fluchterfahrung. Einer von ihnen ist Nadeem Noori. Er ist neben Sarra Lejmi ehrenamtlich Co-Jugendsprecher des "Jugendforum Nordstadt". Beide sprechen für die rund 20 Jugendlichen, die sich derzeit im Jugendforum einbringen und zwischen 16 und 24 Jahre alt sind. Ein Sozialarbeiter und eine Sozialarbeiterin leiten das Projekt.
Nadeem Noori kam 2019 aus Afghanistan nach Deutschland. Seit 2021 engagiert sich der 23-Jährige beim Jugendforum Nordstadt. "Es gibt keinen schlechten Stadtteil, nur schlechte Menschen. Und die gibt es überall", sagt er. Er setzt sich vor allem für die afghanische Community ein und hat vier pro-afghanische Demonstrationen organisiert. Bei der ersten kamen 400 Menschen. "Da habe ich gesehen, dass ich etwas bewirken kann", sagt der junge Afghane, der derzeit sein Abitur nachholt.
Nadeem Noori ist nicht der einzige, der für seine Interessen auf die Straße geht. Bei Gedenkveranstaltungen für das Dortmunder NSU-Opfer Mehmet Kubaşık oder der für die Opfer des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau 2020 gingen alle aus dem Jugendforum mit. "Wir bringen uns ein, weil wir wollen, dass unsere Stimme gehört wird", sagt Lejmi.
Nicht alle Jugendlichen im Jugendtreff kommen aus der Nordstadt. "Darauf sind wir sehr stolz. So kommen Jugendliche unterschiedlicher Hintergründe und Kulturen miteinander in Austausch, die sich sonst vielleicht nie kennenlernen würden", sagt Lejmi.
Bunt statt grau
Manchmal gestalten die Jugendlichen ihren Stadtteil nicht nur politisch, sondern auch optisch. Das wird am Nordmarkt deutlich, einem Platz in unmittelbarer Nähe des Jugendtreffs. Wenn hier nicht gerade Wochenmarkt stattfindet, ist nicht viel los. Doch einige bunte Sitzbänke stechen aus dem Grau des Platzes hervor. "Solidarität verbindet - Nordstadt für alle" steht darauf, oder "All colours are beautiful". Rund zehn Bänke haben die Jugendlichen des Jugendforums 2022 hier künstlerisch gestaltet, um zu zeigen: Die Nordstadt ist bunt und besser als ihr Ruf.
Regelmäßig veranstaltet das Jugendforum den "Young Talk". Bei der Veranstaltung erarbeiten sich Jugendliche in Workshops Inhalte und Fragen zu einem bestimmten politischen Thema. Sie sprechen zum Beispiel über Wahlen, Interkulturalität, Identität oder Cybermobbing. "Wir wollen im Jugendforum Themen ansprechen, die so nur wenig oder gar nicht in der Schule behandelt werden", sagt Lejmi. Anschließend werden die Ergebnisse in großer Runde mit Fachpersonal diskutiert, auch mit Lokalpolitikern. Sogar Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal war schon da. Außerdem gibt es in den Räumlichkeiten ein Tonstudio, in dem die Jugendlichen eigene Songs produzieren können.
Auch in Zahlen zeigt sich eine zumindest teilweise positive Entwicklung für die Nordstadt. In den vergangenen Jahren sind Raubdelikte und Straßenkriminalität laut Polizei Dortmund zurückgegangen, von 2014 bis 2022 um jeweils mehr als 35 Prozent. Die Zahl der Rauschgiftdelikte stieg im gleichen Zeitraum allerdings um 11,3 Prozent.
Ihre Freunde fragten sie öfter, ob sie nicht selbst in die Politik gehen wolle. Ausschließen will Lejmi es nicht. Sie grinst und sagt mit Blick auf ihr Wirtschaftsstudium: "Wer weiß, vielleicht werde ich irgendwann mal Wirtschaftsministerin."