Sandra Riesener, eine Frau mit braunen langen Haaren, sitzt auf einer Bank

Als Kind missbraucht: Wie eine Selbsthilfegruppe Sandras Anker wurde

Bottrop | Füreinander

Stand: 26.01.2025, 09:27 Uhr

Sandra Riesener wurde als Kind jahrelang von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht, sagt sie. Lange verdrängt sie das, was ihr passiert ist. Als sie endlich dazu bereit ist, ihr Schweigen zu brechen und ihren Stiefvater anzeigt, sind alle Taten juristisch verjährt. Jetzt hat sie eine Selbsthilfegruppe in Bottrop gegründet.

Von Nicole Noetzel

Sandra Rieseners Trauma sitzt tief. Eigentlich hat die 51-Jährige einen anderen Namen. Doch nach dem, was sie erlebt hat, will sie ihn lieber nicht im Internet lesen. Bis heute gibt es für sie kaum Tage, die sich leicht und unbeschwert anfühlen. Ihr Leben ist gezeichnet von dem, was in ihrer Kindheit passiert ist. "Die Nächte waren am schlimmsten. Ich hatte kein Zuhause, in dem ich sicher war. Ich habe versucht, so lange in der Schule zu bleiben wie möglich. Oder danach noch zu Freunden oder meinen Großeltern zu gehen." Doch irgendwann muss sie doch wieder nach Hause. "An den Ort, wo mich keiner beschützen kann."

Was Riesener erzählt, konnte vor Gericht nie bewiesen werden. Warum? Dazu später mehr. Strafrechtlich gilt eine Person aber bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig. Das trifft folglich auch auf Rieseners Stiefvater zu. Dieser Text beschreibt, was aus ihrer Perspektive damals geschehen ist.

Achtung Triggerwarnung: In dem Videoclip erzählt Sandra Riesener sehr detailliert von den Erlebnissen mit ihrem Stiefvater.

Sandra Riesener erzählt, wie sie als Kind Opfer von sexueller Gewalt wurde

00:37 Min. Verfügbar bis 26.01.2027

Sexuelle Gewalt an Kindern - ein zunehmendes Problem

So wie die 51-Jährige hat schätzungsweise jede siebte bis achte erwachsene Person in Deutschland als Kind oder in seiner Jugend Erfahrung mit sexueller Gewalt gemacht. Im Jahr 2023 wurden allein in NRW laut Bundeskriminalamt 5065 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern polizeilich erfasst. Die Zahl der gemeldeten Fälle in Deutschland ist da zum sechsten Mal in Folge gestiegen. Das kann auch daran liegen, dass die Bereitschaft bei den Opfern und deren Familien wächst, Fälle zur Anzeige zu bringen. Trotzdem schätzen Experten, dass die Dunkelziffer der tatsächlichen Übergriffe noch um ein Vielfaches höher ist.

Als Kind versucht Riesener, die Nächte einfach zu verdrängen. Als wären sie ein schlechter Traum. Als wäre das, was ihr Stiefvater ihr antut, nie passiert. Mit elf Jahren offenbart sie sich ihrer Mutter, erzählt die 51-Jährige. Doch sie habe ihr nicht geglaubt und sie als Lügnerin bezeichnet. Es dauert Jahrzehnte, bis Riesener wieder mit jemandem darüber sprechen wird. Denn nicht nur der mutmaßliche sexuelle Missbrauch durch ihren Stiefvater, sondern auch der fehlende Rückhalt ihrer Mutter zerstören ihr komplettes Weltbild. Wem kann sie noch glauben? Wem kann sie sich anvertrauen?

Nahaufnahme einer Frau, die einen Brief liest.

Sandra Riesener sehnt sich noch heute nach Gerechtigkeit

Erst als sie im Erwachsenenalter eine schwere Depression erleidet, öffnet sie sich schließlich doch. Im Krankenhaus erzählt sie einem Arzt von den schrecklichen Erlebnissen in ihrer Kindheit. Danach geht sie in Therapie und findet die Kraft, ihren Stiefvater anzuzeigen.

Warum verjährt sexueller Missbrauch?

Doch zu diesem Zeitpunkt ist schon alles verjährt, die mutmaßlichen Verbrechen können strafrechtlich nicht verfolgt werden. "Mein Stiefvater ist immer noch ein freier Mensch. Ich habe den Kontakt zu ihm und meiner Mutter abgebrochen. Aber ich frage mich, ob er noch andere Kinder missbraucht hat", sagt sie. Sie ist wütend darüber, dass es keine anderen rechtlichen Möglichkeiten gibt.

Sandra Rieseners größter Wunsch: Normalität

00:10 Min. Verfügbar bis 26.01.2027

In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Verjährungs-Regelungen bei sexueller Gewalt mehrfach angepasst. In den allermeisten Fällen verjährt eine sexuelle Straftat heute nach 10 Jahren. Nur in besonders schweren Fällen sind es 20 Jahre. Zu dieser Kategorie gehört auch der sexuelle Missbrauch von Kindern. Bei ihnen gibt es außerdem eine weitere Besonderheit.

Die meisten Kinder, die sexuelle Gewalttaten ertragen mussten, finden erst im Erwachsenenalter die Kraft, darüber zu sprechen und die Täter anzuzeigen. Deswegen beginnt die Verjährung nicht schon im Kindesalter, sondern erst ab dem 21. Lebensjahr des Opfers. Konkret bedeutet das: Die meisten Fälle sind verjährt, wenn die Opfer das 41. Lebensjahr vollendet haben.

Warum verjährt sexueller Missbrauch überhaupt? Für wen ist das gut? Doch nur für die Täter. Sandra Riesener (Name geändert)

Warum es überhaupt eine Verjährung bei sexuellem Missbrauch gibt? Juristen argumentieren, dass es mitunter schwer ist, nach so langer Zeit Beweise zu beschaffen und dass sich Zeugen möglicherweise nicht mehr so gut erinnern können. Das hätte Folgen für die Rechtssicherheit des Prozesses. Was ein Anwalt zum Thema Verjährung sagt, liest du hier. Opferverbände kritisieren aber die Verjährungsfristen.

Gemeinsam einen sicheren Raum schaffen

Auf das, was in Riesener seit ihrer Kindheit vorgeht, haben solche Verjährungsfristen natürlich keinen Einfluss. Bis heute meidet sie Männer, wo es nur geht. Immer, wenn sie im Supermarkt einkauft, geht sie zu der Kasse, an der kein männlicher Kassierer sitzt. Wenn sie mit dem Aufzug fährt, die Türen sich öffnen und ein Mann einsteigen will, wartet sie auf den nächsten freien Aufzug. Sie spricht nur mit Männern oder hat mit ihnen zu tun, wenn es unumgänglich ist.

Hilfe bei sexuellem Missbrauch

Die Selbsthilfegruppe in Bottrop ist telefonisch unter 02041 23019 zu erreichen, oder per Mail an selbsthilfe-bottrop@paritaet-nrw.org

Opfer von sexuellem Missbrauch finden außerdem bei folgenden Verbänden Hilfe und Unterstützung:

Riesener hat außerdem eine Selbsthilfegruppe für Mädchen und Frauen in Bottrop gegründet. Sie möchte ein niederschwelliges Angebot machen, damit auch andere Frauen eine Möglichkeit haben, sich zu öffnen, Gehör zu finden. In einem Umfeld, wo jeder wirklich versteht, wie sie sich fühlen. "Ich möchte den Frauen das Gefühl geben, dass ihnen geglaubt wird, dass ihre Ängste und Sorgen real sind. Ich glaube, dass wir uns so gegenseitig stärken können." Die Selbsthilfegruppe trifft sich ein Mal im Monat in Bottrop und ist über den Paritätischen Wohlfahrtsverband Bottrop erreichbar.

Über dieses Thema haben wir am 10.07.2024 auch im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit Ruhr, 19.30 Uhr.