Germa Kleinsorge telefoniert mit einer ihrer Kundinnen, der etwas auf der Seele brennt.

Plötzlich blind - und Telefonseelsorgerin

Bonn | Füreinander

Stand: 12.11.2023, 15:07 Uhr

Germa Kleinsorge ist blind und kann nur sehr schlecht laufen. Trotz ihrer Einschränkungen möchte sie sich engagieren und hat deshalb ein Telefon gegen Kummer eingerichtet. Damit hilft sie nicht nur anderen, sondern wächst auch über sich selbst hinaus.

Von Paula Randerath

Germa Kleinsorge sitzt an ihrem Schreibtisch. Vor ihr liegt ihre Brailletastatur, daneben steht ein Kabeltelefon. Geduldig sitzt die 66-jährige Rentnerin neben dem Hörer. Sie erwartet einen Anruf von einer Gesprächspartnerin. Worüber die beiden sprechen werden, darf sie nicht verraten. Denn sie bietet ein offenes Ohr für Menschen mit Kummer und hat dafür sogar eine Schweigepflicht unterschrieben.

"Zuhören ist mein Naturell"

00:39 Min. Verfügbar bis 12.11.2025

Alles fing damit an, dass Kleinsorge über die Corona-Pandemie hinweg überlegte, was sie mit ihrer Freizeit in ihrer Rente anfangen sollte: "Das machen ja auch viele verkehrt. Die sind dann auf einmal in Rente und sagen sich 'Oh, was mach ich denn jetzt?'. Ich finde, das sollte man sich schon zeitig überlegen."

Wohnung wird zur Telefonzentrale

Weil sie blind ist und durch eine leichte Spastik im Bein nicht gut laufen kann, kam der 66-Jährigen die Idee zu einem Telefon gegen Kummer: "Ich kann zuhören. Ich rede auch ganz gerne". Beim Nachbarschaftszentrum Brüser Berg in Bonn, das ihr bis heute ihre Gesprächspartner vermittelt, unterschrieb sie die Datenschutzgrundverordnung und legte im letzten Dezember nach ihrem Renteneintritt einfach los. Ihre Einzimmerwohnung in Bonn wurde zur Telefonzentrale.

Seitdem klingelt ihr Telefon regelmäßig. Die meisten Menschen, die anrufen, sind Senioren. Sie sind oft einsam und suchen in Kleinsorge jemanden, der zuhört und Zeit für sie hat. Wenn Kleinsorge dann ans Telefon geht, hört sie fast nur zu. Aber es gibt auch andere Fälle: Einige Menschen trauern über einen Verlust und rufen die Seniorin an, weil sie nicht mit Freunden darüber sprechen wollen. Die 66-Jährige tröstet ihre Gesprächspartner dann aus der Ferne.

Germa Kleinsorge über ihre Blindheit

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Einige Menschen rufen Kleinsorge auch deshalb an, weil sie körperliche Behinderungen haben und mit jemandem sprechen möchten, der ihre Ängste und Schmerzen aus eigener Erfahrung nachvollziehen kann. Da ist sie die richtige Anlaufstelle: Denn obwohl sie blind wurde und nicht gut laufen kann, hat sie es geschafft, immer positiv zu bleiben. Ein Rat, den sie auch am Telefon weitergibt.

Statistik über die Telefonseelsorge im Jahr 2022

Eine im März 2023 veröffentlichte Statistik der Telefonseelsorge belegt, dass nach wie vor viel mehr Menschen die Nummer des Hilfe-Telefons wählen, als in der Zeit vor der Pandemie. Insgesamt über eine Million Beratungsgespräche hat die Telefonseelsorge im Jahr 2022 geführt. Gegenüber der Vor-Pandemie-Zeit sind die Mail-Anfragen um 25 Prozent, die Chat-Anfragen um 60 Prozent gestiegen. Insgesamt sind die Kontaktanfragen seit 2020 leicht rückläufig.

Eine neue Freundschaft entsteht

Eine ihrer vertrauten Gesprächspartnerinnen ist Gisela Lott. Nach dem Tod ihres Mannes und einem Schlaganfall, der sie einseitig lähmte und lange Zeit an einen Rollstuhl band, fand sie in Kleinsorge eine große Hilfe: "Man geht mit solchen Dingen nicht, zumindest ich nicht, hausieren. Zu Freunden oder Nachbarn oder so. Man will mit dem Problem keinem auf den Nerv gehen. Und da war die Frau Kleinsorge für mich wie eine Ablage, wo ich alle diese Nöte loswerden konnte."

Zwei Frauen sitzen auf Stühlen an einem Tisch.

Germa Kleinsorge und Gisela Lott sehen sich mittlerweile auch im Privaten

Im Februar 2023 rief Lott zum ersten Mal bei Kleinsorge an. Weil ihr die Gespräche so gut taten, wollte sie die blinde Dame persönlich kennenlernen, aus den Telefongesprächen wurde eine gute Bekanntschaft.

Sorgen-Telefon als Verbindung zur Gesellschaft

Den restlichen Tag verbringt Kleinsorge in ihrer vierzig Quadratmeter großen Wohnung in einem betreuten Wohnheim. Manchmal fährt sie mit einem Taxi zu Nachbarschaftstreffen und zu Treffen mit dem Blindenverein. Sonst hört sie viel Country-Musik oder Filme. Doch ihr Ziel ist es, ihre freie Zeit mit Telefonaten zu verplanen: "Mich begeistern Gespräche mit netten Menschen. Ich finde es immer spannend, neue Leute kennenzulernen." Für sie sagt die Stimme viel über den Menschen am anderen Ende der Leitung aus, wie eine Charaktereigenschaft. Und auch Veränderungen in der Stimmung im Gespräch kann sie leichter heraushören.

Germa Kleinsorge sitzt auf ihrem Balkon und lauscht den Vögeln und dem Verkehr vor ihrem Zuhause

In der Einzimmerwohnung von Germa Kleinsorge spielt sich alles ab

Ihr Telefonangebot gegen Sorgen ist für die 66-Jährige auch ein Stück Verbindung zur Außenwelt. Nach ihrer Zeit als Bürokraft im Arbeitsministerium war es ihr wichtig, eine Aufgabe zu haben. Kleinsorge ist jeden Tag zwischen 10 und 20 Uhr erreichbar. Wer sie anrufen möchte, hat schnell ihren Anrufbeantworter am Ohr - denn nur selten schafft es die Seniorin, direkt am Hörer zu sein. In der Regel ruft sie innerhalb von fünf Minuten zurück und vereinbart dann einen Gesprächstermin, wenn sie nicht spontan Zeit hat.

Das positive Feedback, dass sie von ihren Anrufern bekommt, gibt ihr das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Und es hilft ihr, das eigene Schicksal anzunehmen. "Wenn ich Menschen helfen konnte, dann kann ich am Abend gut einschlafen", erzählt sie.

Über dieses Thema haben wir auch im WDR-Fernsehen am 09.10.2023 berichtet: Lokalzeit aus Bonn, 19.30 Uhr.