Eigentlich lebe ich in zwei Städten. Seit mittlerweile 17 Jahren wohne ich in Unna und fast genauso lange arbeite ich in Köln. Morgens 102 Kilometer hin, abends 102 Kilometer zurück. Ich verbringe also genauso viel Zeit in Unna wie in Köln, vermutlich der Grund für meinen besonderen Blick auf meine Stadt. Das sind doch zwei völlig verschiedene Welten, sagen meine Kollegen und Freunde oft. Nein, eigentlich nicht, erwidere ich dann augenzwinkernd. Es gibt viel mehr Verbindendes als Trennendes. Gut, Unna hat ein paar Einwohner weniger als Köln, Unna zählt knapp 60 000. Aber Größe an sich ist bekanntlich kein Qualitätsmerkmal.
Der kleinste Karnevalsumzug der Welt
Fangen wir mit dem Wichtigsten an: dem Karneval. Der Kölner Zoch ist bekannt und beliebt, keine Frage. Aber zu Weltruhm hat es der Karnevalsumzug aus Unna gebracht. Helmut Scherers Zug ist nämlich guinness-geprüft der "kleinste Karnevalsumzug der Welt": ein geschmückter Bollerwagen.
Von welcher Seite auch immer man sich Unna nähert, man sieht den Kirchturm der Evangelischen Stadtkirche. Abends hell angeleuchtet, ist der blaue Kirchturm Unnas Wahrzeichen. Also fast wie der Kölner Dom den Kölnern. Und alt ist die Stadtkirche auch. 1322 wurde mit dem kleinen Vorgängerbau begonnen. By the way: Unsere Stadtkirche ist fertig.
Apropos Licht. Die Kölner Lichter sind ein absoluter Publikumsmagnet. Unna ist hier etwas subtiler und künstlerischer. Denn Unna, die östlichste Nachbarstadt Dortmunds, hat das weltweit einzige Museum für Lichtkunst, das "Zentrum für Internationale Lichtkunst", wie es offiziell heißt. Schon von weitem ist der über 50 Meter hohe Schornstein der früheren Lindenbrauerei erkennbar. Beim Schornstein fängt die Lichtkunst an. Dort erstrahlen Fibonacci-Zahlen und regen die kleinen grauen Zellen an (oder den schnellen Griff zu Wikipedia).
Köln hat seine lit.COLOGNE, Unna bevorzugt "Mord am Hellweg". Das ist eine inzwischen international bekannte Literaturreihe. Sie bietet an 150 teils sehr besonderen Veranstaltungsorten in und um Unna herum Autorenlesungen. Wobei gern auch schon mal Literarisches und Kulinarisches miteinander verbunden wird. Der mit 11 111 Euro dotierte "Ripper Award" wird seit 2003 in großem Rahmen in der Stadthalle Unna verliehen, dabei sind die 11 111 nicht der Narretei geschuldet, sondern reiner Krimi-Mythologie , denn die 11 ist im Krimigenre eine symbolträchtige Zahl. Preisträger sind weltbekannte Autoren wie Henning Mankell, Håkan Nesser, Fred Vargas und Jussi Adler-Olsen. Alle waren persönlich in meiner alten Hansestadt am Hellweg. Unna – die Stadt der Dichter und Denker. Heinrich Heine war auch zu Gast. Zweimal. Ob er in Köln war, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Wenn nicht, dann musste man halt auchschon früher als berühmter Schriftsteller Prioritäten setzen.
Unna ist überschaubar. Beim Rundgang komme ich häufig, immer natürlich rein zufällig, an meiner Lieblingspizzeria, dem Meisterhaus, vorbei. Einen Steinwurf entfernt liegt die schon erwähnte Lindenbrauerei. Dies ist auch ein Konzerthaus, in dem immer wieder internationale Bands und Künstler auftreten. Unsere WDR Big Band übrigens auch.
Unna von unten
Wer würde wunderschöne unterirdische Gewölbe und eine historische Altstadt mit einer Stadt am Rande des Ruhrgebiets verbinden? Unna hat viele solcher kleinen Schätze, die tief im Verborgenen schlummern und auf ihre Entdeckung durch Einheimische und Touristen warten. Kölner Brauhäuser haben auch riesige, teils unterirdische Gewölbe. Unna ist anders. Kleiner, intimer, persönlicher. "Bitte die Stufen rückwärts runter gehen und den Kopf einziehen", warnt mich Wolfgang Patzkowsky jedes Mal, wenn es in die Katakomben im Haus seines kleinen Museums geht, in dem er, der Stadtführer, auch wohnt. Unten finden sich ein Tresen und ein Tisch. Fast wie im Früh, denke ich. Nur mit dem Unterschied, dass hier maximal 15 Besucher reinpassen. Mehr geht nicht, auch wenn es hin und wieder mal Anfragen größerer Reisegruppen gibt. Geschafft, ich bin beulenfrei in Patzkowskys Gewölbe angekommen, das seinen Bewohnern seit dem 17. Jahrhundert als Kühlschrank diente. Hier erzählt der Stadtführer sofort und mit großer Leidenschaft von der Geschichte Unnas. Damit das Ganze aber nicht zu trocken wird, kredenzt er dazu ein Gläschen Wein. Ein paar Keller weiter greift schon mal ein pensionierter Lehrer vor zehn Gästen zur Gitarre. Private Session im Untergrund von Unna. Fast wie bei 1LIVE. Nur gibt es hier auch noch Unnaer Likör mit Schwarzbrot. Echt lecker!
Neben dem Tauchen ist das Laufen seit zehn Jahren meine große Leidenschaft. Samstags laufe ich gerne alleine durch Unnas abwechslungsreiche Landschaft. Hier kann ich dann meinen Gedanken einfach freien Lauf geben und habe so schon mal die eine oder andere Idee, mit der ich später meine Kollegen "beglücke". Sonntags, um 9.30 Uhr, treffe ich mich bei Wind und Wetter mit den Freunden aus dem Lauf Team Unna im Bornekamp, dem Naherholungsgebiet von Unna. Was dem Kölner sein "Köln Marathon", ist dem Unnaer der alljährliche Firmenlauf. Oft geht es dann am Schloss Opherdicke und seinem Landschaftspark vorbei. Von hier aus hat man einen traumhaften Blick ins nahe Sauerland. Hier oben am Schloss Opherdicke treffe ich auch Ulla Lönne-Wiemann. Die pensionierte Oberstudienrätin ist begeisterte Geocacherin. Egal, wohin sie geht, ihr kleines Navigationsgerät und das Tablet sind immer dabei. Noch ein Grund, warum Frauen immer so große Handtaschen haben... Ulla Lönne-Wiemann führt mich aber schnell weg vom Schloss zu einem ganz besonderen Cache. Ganz und gar nicht prunkvoll und offenbar eher ungeliebt. Wir fahren ins Industrieviertel. Am Ende einer Sackgasse, halb verdeckt zwischen ein paar Sträuchern, steht "Das vergessene Denkmal". Es ist das Denkmal für die Zwangsarbeiter, die es während des Zweiten Weltkriegs auch in Unna zahlreich gab. Ob meine andere Stadt, Köln, mit der dunklen Seite ihrer Geschichte besser umgeht, schießt mir durch den Kopf.
Eine erste Zuflucht: Unna-Massen
Übrigens bin ich vor inzwischen mehr als 50 Jahren, als Kind so genannter "Spätaussiedler", hier in Unna angekommen. Nur durch Zufall lebe ich nach vielen anderen Stationen jetzt hier. Das alte Durchgangslager in Unna-Massen war vor Jahren geschlossen worden. Jetzt ist es wieder in Betrieb. Viele Flüchtlinge, die am Kölner Flughafen ankommen, finden hier in Unna eine erste Zuflucht. Wie ihre Geschichte wohl in 50 Jahren aussehen wird?
Gerhard Zienczyk (59) arbeitet seit 30 Jahren beim WDR. Während seiner abwechslungsreichen Laufbahn war er unter anderem als Leiter des Internationalen Programmaustauschs tätig, gehörte zum WDR-Aufgebot der Fußball-WM in Frankreich und -EM in Amsterdam und plante und realisierte die IT-Infrastruktur des Hörfunks unter anderem beim G8- und Weltklima-gipfel. Aktuell leitet der Ingenieur das Team Sendung und Veranstaltung und fungiert als Technischer Leiter des WDR STUDIOS ZWEI, der WDR-Medienwerkstatt für Schüler.
Dieser Artikel erschien im Dezember 2015 in der WDR PRINT.