Doku über DDR-Flüchtlinge

Ende einer Flucht

Stand: 03.11.2014, 06:00 Uhr

Menschliche Knochen, an einen Baum genagelt: story-Autor Paul Tutsek machte sich nahe der bulgarisch-griechischen Grenze auf eine beklemmende Spurensuche. Das Ergebnis: Etliche DDR-Bürger starben dort auf der Flucht in die erhoffte Freiheit.

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Bis der Eiserne Vorhang vor 25 Jahren fiel, sollen an der Grenze Bulgariens zum Westen etliche DDR-Bürger gestorben sein. Doch kaum etwas ist darüber bekannt: Wer waren sie? Warum mussten sie sterben? Die Autoren Paul Tutsek und Dieter Roser gingen auf die Suche nach Antworten. Mit der Dokumentation "Ende einer Flucht" beleuchtet die story zum 25. Jahrestag des Mauerfalls ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte.

WDR.de: Ein ehemaliger bulgarischer Grenzbeamter zeigt Ihnen mitten im Wald einen Baum, an den menschliche Knochen genagelt sind. Damit beginnt Ihre Spurensuche. Wie kam es überhaupt dazu?

Paul Tutsek: Als vor eineinhalb Jahren, 24 Jahre nach der Wende, die bulgarischen Geheimdienst- und Militärarchive geöffnet wurden, wollten wir einen kleinen Bericht darüber machen. Wir wussten, dass tausende DDR-Bürger versucht hatten, über die bulgarisch-griechische Grenze zu flüchten. Wir fanden einen ehemaligen bulgarischen Grenzer, der bereit war, uns zu seiner alten Kaserne zu begleiten. Irgendwann sagte er: "Ich zeig' Euch was." Wir marschierten etwa zwei Kilometer durch dichten Wald, und standen plötzlich vor diesem Baum, an den kreuzweise menschliche Knochen genagelt waren. Er sagte: "Das sind DDR-Bürger, die versucht haben, zu flüchten." Wir mussten dann nur ein bisschen am Boden im Laub suchen und fanden gleich noch mehr Knochen.

WDR.de: Was war da passiert?

Tutsek: Die Flüchtlinge waren erschossen und verscharrt worden. Schakale und andere Tiere gruben die Leichen wieder aus und fraßen sie auf. Die Grenzer haben dann die Knochen als Abschreckung an den Baum genagelt.

WDR.de: Dann machten Sie sich auf Spurensuche. Wie waren die Reaktionen in Bulgarien auf Ihre Neugier?

Tutsek: Interessanterweise haben wir sehr viele Ex-Grenzer aus jener Zeit vor die Kamera bekommen. Manche gaben sogar offen zu, dass sie Menschen erschossen haben. In Deutschland wäre es undenkbar, dass ehemalige Mauerschützen so frei vor der Kamera über ihre Taten erzählen.

WDR.de: Sie trafen also auf Täter, die sich selber gar nicht als solche sehen?

Tutsek: Reue oder so etwas ist uns kaum begegnet. Das hängt damit zusammen, dass diese Vergangenheit in Bulgarien überhaupt nicht aufgearbeitet ist. 1990 hat man einen Strich gezogen - und über das, was davor geschehen ist, wird nicht gesprochen. Deshalb hatten diese Grenzer gar nicht den Reflex, dass sie etwas zu befürchten hätten, wenn sie mit uns sprechen. Erst, als die Leute merkten, dass wir dieses Thema mit einer gewissen Betroffenheit behandeln, begannen sie, die Geschichten zu verschleiern, schön zu reden, sich selbst wie eine Art Pfadfindergruppe darzustellen.

Einige waren nach der Wende noch viele Jahre Grenzoffiziere gewesen, als Bulgarien längst NATO- und EU-Mitglied war. Die meisten, mit denen wir sprachen, erklärten uns, das sie ihr Vaterland verteidigt hätten. Für mich klang das wie eine Schutzbehauptung. Allerdings galt das Erschießen eines Flüchtlings damals als Heldentat, und die - meist sehr jungen - Grenzer bekamen eine Belohnung dafür: eine Armbanduhr oder einen Anzug und vier, fünf Tage Urlaub. Diese Aussicht auf Urlaub war sehr verlockend, da die Wehrdienstausbildung an der Grenze oft über mehrere Jahre ging, in denen die Soldaten normalerweise nur eine einzige Woche Urlaub bekamen. Wir haben aber auch von Fällen gehört, in denen Grenzbeamte versetzt werden mussten, weil sie diesen Job dort psychisch nicht ausgehalten haben.

WDR.de: Sie sprachen auch mit Bauern aus den umliegenden Dörfern. War es allgemein bekannt, dass dort DDR-Flüchtlinge erschossen wurden?

Tutsek: Ja, alle wussten davon. Nördlich dieser Gegend um Smoljan liegen ziemlich bekannte Urlaubsorte, in die auch damals viele Touristen aus der DDR kamen. Die Bauern erzählen, dass sie immer wieder Erschossene oder Verprügelte gesehen haben, die von den Bergen wegtransportiert wurden. Es gab aber auch nette Geschichten: Ein Bauer erzählte uns, dass sie einmal auf dem Feld arbeiteten und ihr Proviant für den Tag unter einem schattigen Baum gelagert hatten. Als sie dorthin kamen, um zu essen, war der Proviant weg. Stattdessen lagen dort Geldscheine – in Ostmark.

WDR.de: War es Willkür, dass flüchtende DDR-Bürger direkt erschossen wurden?

Tutsek: Es gab klare Regeln für die bulgarischen Grenztruppen: Sie waren verpflichtet, alle Personen zu melden, die sich unerlaubt im Grenzgebiet aufhielten. Zwar sollte nach Vorschrift erst ein Warnschuss abgegeben werden, aber selbst, wenn ein Grenzer sofort schoss, wurde er nicht zur Verantwortung gezogen. War ein Flüchtling erschossen worden, kam noch ein Gerichtsmediziner und ein Staatsanwalt, dann wurde das Opfer verscharrt. Das war sozusagen offizielle Anweisung. So war das System.

WDR.de: Ist bekannt, welche Rolle die DDR-Führung dabei spielte?

Tutsek: Für die DDR waren die Flüchtigen Richtung Bulgarien irgendwann ein derart großes Problem, dass man einen Staatsvertrag abschloss mit Bulgarien – darüber, wie mit den Flüchtlingen verfahren werden sollte. Darin stand, dass man sich gegenseitig bei der Bekämpfung von Republikflüchtlingen helfen will. Falls jemand nicht direkt erschossen wurde, sollte er von der bulgarischen Grenzpolizei verhaftet und dann nach Sofia transportiert werden. Dort wartete ein Genosse von der Stasi. Die Flüchtlinge wurden dann nach Ost-Berlin gebracht, dort gab es einen Prozess und dann Gefängnisstrafe. In der Regel wurden diejenigen dann von der Bundesrepublik freigekauft. Das passierte sehr häufig.

WDR.de: Warum haben immer wieder DDR-Bürger versucht, über Bulgarien zu fliehen, wenn dieser Fluchtweg doch so schwierig und gefährlich war?

Tutsek: Die wenigsten wussten das. In den Westmedien wurde kaum darüber berichtet, in der DDR hat man sich wohl vorgestellt, dass die Grenzverhältnisse dort unten, auf dem Balkan, einfacher seien als die hochtechnologisierte innerdeutsche Grenze oder die Berliner Mauer. Das stimmte aber nicht, denn die Bulgaren hatten schon Anfang der 1950er Grenzanlagen gebaut, die technisch ziemlich fortschrittlich waren. Es gab außerdem überall Minenfelder. Nach einer Statistik, die ich gefunden habe, gelang nur etwa fünf bis sieben Prozent die Flucht über diese Grenze. Alle anderen wurden verhaftet oder erschossen.

WDR.de: Was ist mit den Knochen am Baum geschehen?

Tutsek: Wir haben sie mitgenommen, um sie in Deutschland wissenschaftlich untersuchen zu lassen: Ob es menschliche Knochen sind und ob sie wirklich aus der besagten Zeit stammen. Irgendwann werden wir sie beerdigen. Nach unserer Recherche muss man davon ausgehen, dass dort noch viel, viel mehr sterbliche Überreste von Flüchtlingen in der Erde zu finden sind. Es müsste eine Gruppe aus Forensikern und Archäologen dieses Gebiet untersuchen.

Das Interview führte Nina Magoley.

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