Tausende Menschen bei einer Kundgebung im brasilianischen Sao Paulo (Aufnahme vom 1. Mai 2008)

Stichtag

30. August 1974 - UNO-Weltbevölkerungskonferenz beendet

Ist die sogenannte Überbevölkerung die Hauptursache für die großen Probleme dieser Welt? Es klingt logisch: Mehr Kinder bedeuten scheinbar mehr Armut, mehr Hunger, mehr Umweltbelastung. Doch so einfach ist es nicht: Derzeit leben rund 7,2 Milliarden Menschen auf der Erde, für mindestens neun Milliarden werden Lebensmittel produziert - und trotzdem hungert eine Milliarde. Die Angst vor der "Bevölkerungsexplosion" ist dennoch weitverbreitet. Zu dieser Sicht beigetragen hat die erste Weltbevölkerungskonferenz, die am 30. August 1974 in Bukarest zu Ende geht. Das knapp zweiwöchige UNO-Treffen, an dem 135 Staaten teilnahmen, ist auf Initiative der USA zustande gekommen.

In der einzigartigen wirtschaftlichen Wachstumsphase nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Weltbevölkerung auf rund vier Milliarden Menschen angewachsen - vor allem in der sogenannten Dritten Welt. Deshalb befürchten die Amerikaner, die vielen zusätzlichen Armen könnten im Kalten Krieg zu Kommunisten werden. US-Außenminister Henry Kissinger schreibt wenige Monate vor Bukarest in einem geheimen Memorandum: "Das oberste Gebot der US-Außenpolitik ist die Bevölkerungsreduktion - in anderen Ländern." Zu den Staaten, die er aufzählt, gehören unter anderem Mexiko, Brasilien, Nigeria, Pakistan, Indonesien und die Philippinen. Argumentationshilfe liefert dabei der gerade veröffentlichte Experten-Bericht von den "Grenzen des Wachstums" an den "Club of Rome". Auch darin wird die "Überbevölkerung" als ein Hauptproblem ausgemacht. Darum will der Westen in Bukarest möglichst alle Staaten auf Bevölkerungskontroll-Programme verpflichten.

Schuldenkrise als Druckmittel

Doch die sogenannten Entwicklungsländer wehren sich und setzen im Abschlussdokument ihre Forderung nach einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung durch. Dennoch ist Bukarest im Rückblick vor allem ein Erfolg der Industrieländer, sagt Soziologie-Professorin Christa Wichterich von der Universität Kassel: "Die Funktion der Bukarest-Konferenz war Agenda-Setting, also das Thema als Politikum zu internationalisieren." Die Botschaft an die Länder des Südens: "Bei zukünftiger entwicklungspolitischer Kooperation wird dieses Thema ständig präsent sein." Die aufziehende Schuldenkrise erweist sich dabei für den Westen als Druckmittel. Denn immer mehr Länder des Südens sind dringend angewiesen auf Kredite von IWF und Weltbank, die beide von den Industrieländern kontrolliert werden. So macht zum Beispiel die Weltbank Geburtenkontroll-Programme zur Bedingung für ihre Kreditvergabe. Die bevölkerungsreichsten Länder werden aber auch von sich aus aktiv. Indien setzt auf millionenfache Zwangssterilisierungen, China betreibt eine Ein-Kind-Politik.

Auf der zweiten Weltbevölkerungskonferenz 1984 in Mexiko bildet sich laut Christa Wichterich schließlich ein internationaler Konsens über die Notwendigkeit einer verordneten Geburtenkontrolle. Erst bei der dritten und bisher letzten Konferenz in Kairo 1994 werden Zwangsmaßnahmen geächtet. Neues Ziel ist das "Empowerment" der Frauen. Sie sollen freien Zugang zu Aufklärung und Verhütungsmitteln sowie den selbstbestimmten Umgang damit erhalten. Diese Leitlinie wird in Kairo durchgesetzt gegen einen Allianz aus Vatikan, konservativen Islamstaaten und Evangelikalen aus den USA.

Rückgang der Weltbevölkerung

Die Annahme, dass mehr Kinder auch mehr Armut bedeuten, hat sich bisher empirisch nicht belegen lassen. Wenn es einen Zusammenhang gibt, dann wohl umgekehrt: Solange Menschen arm sind, brauchen sie viele Kinder als Lebensversicherung für das Alter. Dort, wo hingegen Armut und Kindersterblichkeit reduziert werden können, sinkt als Folge auch die Geburtenrate - kulturübergreifend.

Inzwischen ist die Geburtenrate weltweit stark zurückgegangen: von 4,8 Kindern pro Frau 1970 auf heute 2,4. Frühere Prognosen über das Wachstum der Weltbevölkerung haben sich als zu hoch herausgestellt. Die Demographen erwarten nun in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts einen Höhepunkt von etwas über neun Milliarden Menschen und ab dann einen Rückgang. Ein Grund zum Zurücklehnen ist das aber nicht: "Die ganzen Probleme mit Armut und Reichtum, mit Umverteilung, ungleichem Konsum - die werden mit einer stabilisierten Bevölkerung nicht verschwinden", sagt Soziologin Wichterich. "Es wird sich dann nur zeigen, dass Bevölkerungswachstum eben nicht die Ursache dieser Probleme war."

Stand: 30.08.2014

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