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Rückblick aus dem Jahr 2005: Die lange Online-Nacht 1998

Mit "Escape" multimedial ins Web hinein

Stand: 30.04.2005, 11:56 Uhr

Ein Druck auf die "Escape"-Taste, und schon ist man raus. Nicht so bei "Escape", der langen Online-Nacht im WDR Fernsehen: Die führte mitten hinein ins Web. Eine Reise mit ungewissem Ausgang für Zuschauer, Macher und User im dritten Online-Jahr des WDR.

Von Marion Kretz-Mangold

"Internet" ist für viele ein Buch mit sieben Siegeln, das Wort "googeln" noch gar nicht erfunden - es ist das Jahr 1998. Aber es ist so viel zu entdecken in der wunderbaren Welt des World Wide Web. Höchste Zeit, im Netz zu stöbern und dem Publikum die Fundstücke zu zeigen, findet der Westdeutsche Rundfunk, Abteilung "Unterhaltung". "Da waren wir schon Vorreiter", erinnert sich Hans-Georg Kellner, damals der verantwortliche Redakteur. "Schließlich hat das vorher noch keiner probiert."

"Das": Das waren sechs Stunden voller Infos, zu nächtlicher Stunde und live gesendet - nicht nur im Fernsehen, sondern auch im Internet. Ein technischer und organisatorischer Kraftakt, der 30 Redakteure, 40 Techniker und 4 Moderatoren in Atem hielt.

Klick um Klick zum Krimi

Würde der Server standhalten? Das war eine der bangen Fragen, als am 21.03.1998, Schlag Mitternacht, das große Experiment startete. Und würde das Konzept der "Escape"-Macher" aufgehen? Da gab es etliche Filme, die wenigstens eine Ahnung von den vielen vielen Seiten des Internets geben sollten: Von Webcams im Kühlschrank und auf der Kuhweide, von Online-Taxis und dem Stau auf der Datenautobahn, von Pornos im Netz und Foren für Vergewaltigungsopfer. Obendrein sollten die Zuschauer auch noch mitmachen - Stichwort interaktiv.

Ein Rätsel war zu knacken, ein Service-Roboter zu programmieren und, die größte Herausforderung, ein Krimi mit dem Titel "Der literarische Selbstmord" zu schreiben - in Zehn-Zeilen-Häppchen. Schließlich galt es zu beweisen, dass der Computer nicht per se kulturfeindlich ist. Aber ob dabei wirklich der "wichtigste Klassiker der künftigen trivialen Netzliteratur" entsteht? Einfach mal sehen, was passiert - morgens um sechs würden alle schlauer sein.

Kokettieren mit dem Nicht-Wissen

Das galt übrigens nicht nur für die Netz-Nutzer. Auch bei den Menschen im Studio gehörte Nicht-Wissen fast noch zum guten Ton, und "Ach was!" oder "Das habe ich jetzt nicht verstanden" war mehr als einmal zu hören. Bettina Böttinger sollte mit den Usern chatten, hatte das aber noch nie getan und auch sonst ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem Computer.

Die drei Reporter, die der WDR in die Welt hinausgeschickt hatte, um sich per Satelliten-Bildtelefon live zu melden, hatten auch ihre Probleme - mit den Aufgaben, die sie überraschend lösen mussten, aber auch mit der damals noch wenig erprobten Technik. "Wir haben zwar einen Crash-Kurs gemacht, aber das war schon echt schwierig", erinnert sich Henning Quanz. Im Dschungel Sri Lankas stehen, Einheimischen deutsches Liedgut beibringen und gleichzeitig den Satelliten anpeilen: Das brachte auch erfahrene Moderatoren ins Schleudern.

Am Rande des Zusammenbruchs

Ins Schwitzen gerieten auch die Techniker im heimischen Köln. Der Server stand kurz vor dem Zusammenbruch: 600.000 Mal wurde allein zwischen 12 und 2 Uhr auf die WDR-Homepage zugegriffen, fast 25 Mal häufiger als sonst. Im Laufe der Nacht beruhigte sich die Lage aber wieder - die Promis konnten ungehindert chatten, das Rätsel wurde schnell gelöst und der "interaktive Krimi" immer dicker. Was mit dem Satz "Die Luft über Los Angeles schwappte in seinen Lungen wie flüssiges Blei" angefangen hatte, ging mit "Ich bin nicht Caroline deine mutierte Zombienichte" weiter. Nicht unbedingt die "große Literatur", auf die Moderator Michael Gantenberg gehofft hatte, aber ein großer Spaß.

Die Sehnsucht nach dem Croissant

Um 6.01 Uhr der letzte Krimi-Eintrag: "Fine". Schlusspunkt nach sechs Stunden, in denen Bettina Böttinger visuell verunstaltet wurde, der fernprogrammierte Service-Roboter fast die Kameras umgefahren und Ana aus Minnesota bekannt hatte, dass das Liebesleben wohl doch unter der Webcam im Schlafzimmer leidet. Als Henning Quanz endlich die "Fischer-Chöre" aus dem Dschungel zum Singen gebracht hatte, sehnten sich die Moderatoren nur noch nach einem: ein non-virtuelles Croissant mit Marmelade.

Das Fazit der langen Nacht im Netz? 100.000 Zuschauer schauten im Schnitt zu, es gab fast 850.000 Klicks und 2.500 E-Mails - und einen 15 Seiten starken Krimi, der im Netz veröffentlicht wurde. Dann allerdings verschwand er im virtuellen Nichts - genau wie "Escape", das ein einmaliges Experiment blieb. "Wenn man das nochmal machen würde, wäre es, als wollte man Eulen nach Athen tragen", sagt Redakteur Hans-Georg Kellner, und es klingt bedauernd. Das Netz ist immer noch eine große Wundertüte voller bunter Bonbons - aber auspacken kann der User sie jetzt alleine.

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