Wie wichtig ist Anonymität im Netz, fragte WDR.de seine User. Sie antworteten im Gästebuch, auf Facebook und per Twitter. Klarnamen schützen vor Pöbeleien, aber Pseudonyme bedeuten Freiheit. Es wurde diskutiert und gestritten. Anlass war aktuell die Diskussion um den "Klarnamenzwang" bei Google Plus. In der Auswertung der Userbeiträge haben sich für uns einige zentrale Anschluss-Fragen ergeben, mit denen sich zwei Netz-Experten beschäftigt haben.
Anne Roth ist Bloggerin, Netz- und Medienaktivistin und Journalistin. Sie beschäftigt sich vor allem mit Netzpolitik, Medien, Überwachung und Terrorismus. Jan-Hinrik Schmidt forscht am Hamburger Hans-Bredow-Institut zu digitalen Medien und politscher Kommunikation. Seine Schwerpunkte sind das Web 2.0 und "Social Software".
WDR.de: Wie realistisch ist vollkommene Anonymität online heute überhaupt noch?
Jan-Hinrik Schmidt: Eigentlich nicht mehr. Außer, man bedient sich der aktuellsten kryptografischen Technologien, Anonymisierungsserver und Verschlüsselung, mit der man seine Identität verschleiern kann. Sobald ich das Internet nutze, werde ich aber über die Speicherung von IP-Adresse und Datenspuren, die ich hinterlasse, zumindest in Ansätzen identifizierbar. Faktisch gibt es aber viele Bereiche des Netzes, wo User untereinander anonym kommunizieren können: per Pseudonym. Allderdings können die Anbieter von Foren über die IP-Adresse Rückschlüsse auf meinen Rechnerstandort ziehen.
WDR.de: Wo ist Anonymität als Schutz des Individuums, seiner Daten und seiner Meinung bei Online-Aktivitäten wichtig?
Anne Roth: Um sich ohne Einschränkungen äußern zu können auch wenn etwa der Arbeitgeber, der prügelnde Ex-Mann oder die Ausländerpolizei auf der Suche nach "illegalen" Migranten mitlesen. Die Verschleierung des eigenen Vor- und Nachnamens ist dabei eine Sache, eine andere etwa die Wohnadresse. Hier bietet Anonymität zum Beispiel Schutz vor potenziellen und realen Stalkern. Die Verfolgung politischer Dissidenten ist in vielen Ländern Alltag - auch für sie ist Anonymität im Netz wichtig.
Schmidt: Wenn man über Anonymität oder Pseudonymität spricht, stellt sich immer die Frage: Wem gegenüber? Für die meisten Nutzer sind das in der alltäglichen Kommunikation in Foren die Mitdiskutierenden, die Bezugspersonen, denen gegenüber sie anonym sein wollen. Sie fragen sich nicht, wer auf die IP-Adressen zugreifen könnte. Anonymität ist zum eigenen Schutz wichtig, wenn es um sensitive persönliche Bereiche geht und um Themen wie politische Debatten, Religion, Weltanschauung, sexuelle Orientierung, Selbsthilfegruppen zu Krankheiten. Daten im Internet bleiben gespeichert, sind durchsuchbar und verkettbar. Verwendet man in Foren aber unterschiedliche Pseudonyme, können die Informationen nicht von Dritten zusammengetragen werden.
WDR.de: Klarnamen oder Pseudonym in Netzwerken oder Foren: Gibt es aus Ihrer Sicht einen klaren Trend für die Zukunft?
Schmidt: Nein, das Internet ist so vielfältig, dass es beide Strömungen weiter geben wird. Klarnamen haben aber wegen der Netzwerkplattformen an Bedeutung zugenommen: Dort wollen die Nutzer für ihr soziales Netz auffindbar sein. Im Prinzip sind diejenigen, die Klarnamenpflicht im Sinne einer Diskussionskultur fordern, auf dem richtigen Weg. Man weiß aus Studien, dass das Kommunikationsverhalten anders ist, wenn Menschen damit rechnen müssen, dass das, was sie da äußern, nicht folgenlos bleibt. Weil es ihnen zugerechnet werden kann. Nur hängt das nicht am Klarnamen an sich. Es gibt viele Beispiele dafür, dass User auch in Communities mit Pseudonymen zivilisiert miteinander umgehen. Der entscheidende Unterschied ist, ob es eine zurechenbare Online-Identität gibt, wie ein Nickname, der immer verwendet wird. An den kann dann auch eine Online-Reputation gebunden sein, die sich ein Nutzer erhalten will. Der konkrete Name ist dann erstmal zweitrangig.
Google und Facebook, die große Teile unseres sozialen Lebens online abbilden, steuern aber auf einen harten Konflikt zu, wenn sie nicht darauf eingehen, wenn Menschen ihre informationelle Selbstbestimmung einfordern. Wenn sie weiter ihre eigenen Vorstellungen von Privatsphäre und Datenschutz in die Software und in die Allgemeinen Geschäftsbedingungen gießen, müssen sie mit einem Rückschlag rechnen. Von Seiten der Nutzer, aber auch von Regierungen oder der EU, die dazu gesetzliche Regelungen festlegen werden.
Roth: Ich fürchte, dass sich viele Menschen dem Druck beugen, der von sozialen Netzwerken wie Google zur Zeit ausgeübt wird, keine Pseudonyme zu benutzen. Auch aus der Politik ist diese Tendenz stark zu spüren. Bei vielen kommt sicher der Impuls "Ich habe doch nichts zu verbergen" dazu. Dabei bedenken sie nicht, dass sich Menschen und Meinungen ändern, dass neue Arbeitgeber vergangene Äußerungen anders bewerten, dass ein Menschenrechtsaktivist in einem anderen Land für seine Aktionen bedroht wird. Ich würde mir wünschen, dass akzeptiert würde, dass wir alle nicht nur eine, sondern im Laufe eines Lebens viele Identitäten annehmen, uns ändern, in verschiedenen Umgebungen verschiedene Rollen haben.
WDR.de: Eine Stärke von Google Plus soll sein, die Leistungen von Facebook und Twitter zu kombinieren, heißt es. Eine Plattform für alles - und alle? Was meinen Sie?
Roth: Die technische Umsetzung von Google Plus ist sicher besser als die der früheren sozialen Netzwerke. Das wird eine entscheidende Rolle für die Akzeptanz spielen. Ich sehe allerdings auch einen Hype, der von vielen Nutzern der Beta-Version gepflegt wird. Diese Nutzer haben einen ausgesprochenen Selbstdarstellungsdrang und prägen gerade den öffentlichen Eindruck - ob das dann tatsächlich für die restliche (Online-)Gesellschaft zutrifft, werden wir sehen.
Schmidt: Ich werde mit Google Plus noch nicht sonderlich warm. Entscheidend wird sein, ob es Google Plus gelingt, dauerhaft den Sprung von der Gruppe der Technik- und Web-2.0-Interessierten hin zu den "normalen Nutzern" zu schaffen. Es wird sich demnächst zeigen, ob sich der Nutzerkreis erweitert - vielleicht auf Kosten von Facebook oder ergänzend. Twitter ist ein eigenes Phänomen, weil es sowieso noch viel mehr Nische ist.
WDR.de: Wird es zukünftig ein Super-Netzwerk geben? Und: Wollen wir das überhaupt?
Roth: Auf mich macht Google Plus den Eindruck, als wolle es das Zentrum des digitalen Lebens seiner Nutzer werden: Netzwerk, Mail, RSS-Reader, Blogs, Suche. Und dabei akzeptiert es keine demokratischen Selbstverständlichkeiten wie Mitbestimmung oder Meinungsfreiheit. Wenn sich das durchsetzt, sehe ich eine sehr schwierige Entwicklung für demokratische Gesellschaften voraus. Das ist für mich eine Form digitaler Diktatur. Um dem zu entgehen, dürfen wir einem Unternehmen nicht soviel Macht in die Hand legen. Und mehr Vielfalt hat noch nie geschadet. Ich würde mir eine veränderte Form wünschen: eine, die den Nutzern mehr Freiheiten lässt und sie nicht zwingt, ihren realen Namen mit ihrer Mail, ihrem Blog, ihrem Kalender, ihren Suchbegriffen zu verbinden. Google tut sich mit den vielen Account-Löschungen gerade auch keinen Gefallen.
Schmidt: Der Mainstream der Nutzer lernt gerade erst, dass es eine neue Art gibt, um auf dem Laufenden zu bleiben: den Neuigkeiten-Stream, der aus meinem sozialen Netzwerk kommt. Auf einmal haben wir etwas, das sich ständig aktualisiert - und die Quellen werden von mir selbst bestimmt. Bei Facebook sind das Leute, die ich aus dem echten Leben kenne.
Das Prinzip jetzt zu übertragen auf weitere Informationsbedürfnisse und bestimmte Wissensdomänen, ist etwas anderes. Das Internet bietet inzwischen mit RSS Feeds oder Dashboards (Software, die verschiedene Services bündelt und in einer Nutzungsoberfläche zusammenführt, Anm. d. Red.) tolle Tools zur Organisation von Informationsquellen, die aber noch mehr Aufwand erfordern. Das ist für den Mainstream der Internetnutzer noch nicht so relevant. Vielleicht ändert sich das im Laufe der Zeit. Es kann aber auch sein, dass an der Stelle auch in Zukunft eine Bruchlinie verläuft zwischen Mediennutzungs- und Informationstypen. Dass es Leute gibt, die sich sehr viel aktiver ihre eigenen Informationsrepertoires zusammenstellen und andere, die zufrieden sind, wenn sie mit ihren sozialen Kontakten kommunizieren können. Ansonsten informieren sie sich über klassische Massenmedien.
Das Gespräch führte Insa Moog.