Interview mit Kalle Henrich
"Hömma, du bis abba nich von hia"
Stand: 16.03.2010, 00:01 Uhr
Kalle Henrich kennt sich mit dem alten und neuen Ruhrdeutsch bestens aus: Er ist Autor eines Ruhrdeutsch-Sprachführers und tritt mit Kabarettlesungen an kleinen Bühnen im Revier auf. Außerdem hört er täglich wie die neue Generation von Ruhrgebietlern spricht. Der 58-Jährige ist Deutschlehrer an einer Gesamtschule in Essen-Katernberg, in unmittelbarer Nähe von Zollverein.
WDR.de: Woran lässt sich das Ruhrdeutsch erkennen?
Kalle Henrich: Gelsenkiochen, Doatmund - wir brauchen nur einen Satz zu sagen und alle wissen, wo wir herkommen. Es gibt eine Studie, die erst ein Jahr alt ist. Da wurden Menschen befragt, die nicht im Ruhrgebiet wohnen, woran sie Ruhrgebietler erkennen. Und die haben fast übereinstimmend gesagt, es sei das nicht gesprochene "R" wie bei "Schiom" (Schirm), "Kioche" (Kirche) oder "Mutta" (Mutter).
WDR.de: Sie selbst sind in Essen-Süd aufgewachsen - können Nicht-Ruhris die Aussprache überhaupt richtig hinkriegen?
Henrich: Ich glaube, ganz richtig können sie das Ruhrdeutsch nicht lernen. Es gibt bestimmte Schattierungen, wie die Härte der Endungen, die sehr schwierig sind, zum Beispiel "weck" (weg) oder "nicks" (nix). Das kriegt man als Außenstehender nur hin, wenn man übertreibt und das würde jeder sofort merken.
WDR.de: Finden es die Menschen aus dem Ruhrgebiet überhaupt gut, wenn Touristen versuchen, den Dialekt nachzumachen?
Henrich: Der Ruhrgebietsmensch ist unheimlich gesellig, sehr verständnisvoll, ehrlich und direkt. Der wird demjenigen auf jeden Fall sagen: "Hömma, du bis abba nich von hia". Der wird es ihm aber nicht übel nehmen.
WDR.de: Hat sich mit dem Wandel der letzten Jahre auch die Reviersprache verändert?
Henrich: Ja, es gibt eine Varietät, die vor 20-30 Jahren absolut typisch war, nämlich die Verkleinerungsform "ken" und "kes". Zum Beispiel: "Datt Ömaken isst so gerne Bütterkes" ("Die Oma isst so gerne Butterbrote"). Meine Oma und meine Eltern haben noch so gesprochen, ich kann das auch noch verstehen, aber meine Tochter und meine Schüler kennen die gar nicht mehr.
WDR.de: Gibt es denn andererseits auch ein Ruhrdeutsch-Merkmal, das sozusagen "Karriere" gemacht hat und jetzt in ganz Deutschland gesprochen wird?
Henrich: Diese Endung "-ch" statt "-g" wie in "ruhich" statt "ruhig". Vor 30 Jahren war das noch typisch für das Ruhrgebiet, aber nach neueren Untersuchungen wird das mittlerweile auch in 80 Prozent der anderen deutschen Dialekte so gesprochen. Wir haben also missionarisch gewirkt. Das sieht man sogar im Fernsehen, zum Beispiel bei der Tagesschau: Da heißt es dann "Tach" statt "Tag".
WDR.de: Haben die Jugendlichen im Ruhrgebiet auch wieder neue Sprachmuster entwickelt?
Kalle Heinrich
Henrich: Es gibt dieses Phänomen, dass man kürzer spricht und abkürzt, zum Beispiel Verben weglässt, aber auch nach Präpositionen keinen Artikel spricht. "Ich geh jezz Kino". Ich habe in der Schule damit täglich zu tun. Die Jugendlichen wissen, wie es richtig heißt, die sind nicht dumm. Wenn ein Schüler zu mir sagt: "Herr Henrich, gehn Sie jetzt Lehrerzimmer?" Dann mache ich auch einen Spaß und antworte: "Ey, Alter, ich geh nie Lehrerzimmer."
WDR.de: Als Deutschlehrer sollen Sie Ihren Schützlingen eigentlich korrektes Deutsch beibringen - ein Gewissenskonflikt?
Henrich: Da gibt es eine ganz einfache Lösung: Man darf viel sprechen, aber man schreibt es nicht. Beispielsweise: "Ich kann nich', ich bin gerade am telefonieren". Diese Verlaufsform ist ein schwerwiegender Grammatikfehler. So sprechen wir aber alle und alle wissen, dass es eigentlich heißen müsste: "Ich bin gerade im Begriff, zu telefonieren". Wenn jemand so spricht, würde ich das nie bestrafen - aber wenn jemand so schreibt, ist das ein Grammatikfehler.
WDR.de: Gibt es Ruhrgebietsformulierungen, die auch Deutschlehrer nicht mehr lustig finden?
Henrich: Bei vielen ruhrgebietstypischen Ausspachen würde nie jemand sagen, der Mensch ist dumm. Aber in dem Moment, wo der Fall vertauscht wird - "hör mir auf mit die Bundesliga" - da sagen die Leute: "Mein Gott, wie redet der denn?" Der Hintergrund ist, dass es im Niederdeutschen diesen Fall nicht gab und bis heute wird in der Umgangssprache kein Unterschied gemacht. Viele Kinder haben niemanden, der ihnen erklärt, wie es richtig geht. Und deshalb ist dieser Fehler wirklich ein Soziolekt, man kann daran die Schichtzugehörigkeit erkennen - aber nicht die Intelligenz, das ist sehr wichtig. Schon 1974 gab es eine wissenschaftliche Studie, in der gezeigt wurde, das hochintelligente Kinder zur Hauptschule geschickt wurden, nur weil sie diesen Grammatikfehler gemacht haben. Das ist ein stigmatisierender Fehler.
WDR.de: Das Ruhrdeutsch hatte tatsächlich lange den Ruf, eine "Unterschichtsspreche" zu sein. Sind Minderwertigkeitsgefühle da angemessen?
Henrich: Diese Minderwertigkeitsgefühle führe ich immer auf eine Fernsehsendung zurück, die vor über 30 Jahren ausgestrahlt wurde. Das war eine Sendung mit dem Kabarettisten Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier. Der hat die Sprache unheimlich in den Schmutz gezogen und den Eindruck erweckt, wir im Ruhrgebiet könnten keine ganzen Sätze bilden. Das war übrigens jemand, der aus Koblenz stammte.
WDR.de: Auch heute gibt es Kabarettisten, die das Ruhrdeutsch zu ihrem Markenzeichen gemacht haben. Was ist der Unterschied?
Henrich: Die neueren Typen wie Else Stratmann und Herbert Knebel, die lachen auch über sich selbst. Das ist eine völlig neue Situation. Wir haben unser Selbstbewusstsein unseren Dialekt betreffend erst in den letzten 20 Jahren erworben. Wir müssen aus der Ecke raus, dass wir bloß zweitklassig sind. Einer Umfrage zufolge sind Sächsisch und Ruhrdeutsch die unbeliebtesten Dialekte, aber wenn es um die Beliebtheit der Menschen geht, sind die Sachsen und Ruhrgebietler an den ersten beiden Stellen. Und davon müssen wir zehren, finde ich.
Das Interview führte Katrin Schlusen.