Grünenthal-Schriftzug

Unternehmensgeschichte Grünenthal

Erfolgsstory mit katastrophalem Makel

Stand: 23.11.2006, 06:00 Uhr

1845 kocht Andreas August Wirtz Seife in seinem Kolonialwarenladen. Heute beschäftigen seine Nachkommen weltweit mehrere Tausend Mitarbeiter. Eine glanzvolle Unternehmensgeschichte - mit einem dunklen Schatten.

Von Gregor Taxacher

Den Namen Contergan kennen (fast) alle, den Namen Grünenthal nur wenige. Die Firma, die das Schlaf- und Beruhigungsmittel mit den furchtbaren Folgen auf den Markt brachte, ist ein Traditionsunternehmen aus Stolberg bei Aachen. Bis heute ist das Pharmaunternehmen samt zweier Geschwisterfirmen im Besitz der Familie Wirtz. Der Wirtz-Clan blickt stolz auf seine über 160-jährige Erfolgsgeschichte. Vielleicht fällt ihm gerade deshalb ein offener Umgang mit dem großen Makel in dieser Bilanz schwer: der Katastrophe um den Wirkstoff Thalidomid.

Dalli und Penicillin

Im 19. Jahrhundert entsteht die chemische Industrie vielfach aus Hinterzimmer-Laboren. Dort kocht auch der rheinische Kolonialwarenhändler Andreas August Wirtz seit 1845 ein Waschmittel für den eigenen Verkauf zusammen. 1899 ist er Fabrikant und bringt die Waschmittelmarke "Dalli" heraus. Damit legt er den Grundstein für die Wirtz-Gruppe.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gründet die Familie Wirtz ein Pharmaunternehmen. Die Grünenthal GmbH überflügelt bald die Waschmittelschwester, denn sie erhält 1948 von den Alliierten die erste Lizenz in Deutschland zur Herstellung von Penicillin. Das Antibiotikum revolutioniert die Bekämpfung von Infektionskrankheiten.

Vom Verkaufsschlager zur Katastrophe

1957 bringt Grünenthal seinen größten Verkaufsschlager auf den Markt: Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan. Sein Wirkstoff Thalidomid gilt als besonders gut verträglich. Erfunden wird er in der Forschungsabteilung der Firma, deren Leiter Heinrich Mückter auch am Gewinn des patentgeschützten Produkts beteiligt ist. Dass ihm die polnische Justiz medizinische Experimente an KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern während der NS-Zeit vorwirft, schadet Mückters Nachkriegskarriere nicht. Contergan ist frei verkäuflich. 1960 greifen täglich etwa 700.000 Bundesbürger zu dem Mittel.

Am 27. November 1961 nimmt Grünenthal den Kassenschlager vom Markt, nachdem sich die wissenschaftlichen Hinweise verdichten, dass Contergan schwere Schäden an Neugeborenen verursacht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Auch Firmenchef Hermann Wirtz wird angeklagt, aus gesundheitlichen Gründen aber schon bald aus dem Verfahren genommen. Der Mammut-Prozess gegen die Verantwortlichen bei Grünenthal beginnt 1968 und endet im April 1970 ohne Urteil. Das Verfahren wird wegen "zu geringem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung" eingestellt. In der Begründung des Gerichts heißt es, Grünenthal habe sich "branchenüblich" verhalten, auch als es sich lange gegen einen Verkaufsstopp von Contergan wehrte. Ein Freispruch ist das nicht: Die Richter gehen ausdrücklich von fahrlässigem und rechtswidrigem Verhalten der Firma aus. Aber die individuelle Schuld der Angeklagten sei nicht beweisbar.

Stiften und Schweigen

Noch vor Ende des Prozesses einigt sich die Firma mit den Anwälten der Contergan-Geschädigten auf eine Entschädigungslösung: Danach zahlt Grünenthal etwas mehr als 100 Millionen Mark in eine Stiftung, an der sich in gleicher Höhe die Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Von der Stiftung erhalten die Betroffenen Rentenzahlungen. Grünenthal kauft sich mit dieser Regelung von allen weiteren Schadenersatzansprüchen frei. So trägt der Staat seit 1997 die Kosten allein, weil das Stiftungsvermögen nach 27 Jahren aufgebraucht ist.

Die Kosten für Grünenthal liegen aber weit höher: Die Firma übernimmt sämtliche Prozesskosten der Angeklagten und beschäftigt dafür über 30 Anwälte. Der Verlust des Contergan-Geschäfts belastet die Bilanz. In Wirtschaftsmedien werden die Kosten des Skandals für Grünenthal auf 300 Millionen Euro geschätzt. Die Firma bestätigt diese Zahl nicht. Es gebe "keine validen Aufstellungen zu den Gesamtkosten", heißt es auf Nachfrage. "Mich hat immer gewundert, wie die das damals überstanden haben", sagt Wilhelm Bartmann, Experte für Unternehmensgeschichte im Fachbereich Pharmazie an der Universität Frankfurt am Main. Grünenthal spricht nicht gern über Interna rund um Contergan. Was hat die Firma damals gerettet? Auf diese Frage hin verweist eine Firmensprecherin nur auf "das persönliche Engagement der Familie Wirtz."

Grünenthal floriert weiter

Im Jahr des Prozessendes 1970 übernimmt der Firmenerbe Michael Wirtz die Leitung von Grünenthal. Seine Karriere macht deutlich, dass der Contergan-Skandal die Erfolgsgeschichte der Unternehmer-Dynastie nur kurz unterbrochen hat: Michael Wirtz ist zeitweise Vorsitzender der IHK Aachen, Mitglied im renommierten Karlspreiskomitee und im Dombauverein sowie Ritter im katholischen Orden vom Heiligen Grab. Erst 2005 übergibt er die Leitung von Grünenthal an seinen Sohn Sebastian. Der Pharma-Zweig im Wirtz-Imperium ist zu dieser Zeit wieder der gewinnträchtigste.

Neben Dalli und Grünenthal gehört noch der Parfüm-Hersteller Mäurer-und-Wirtz ("Tabac") zur Unternehmensfamilie. 19 Familienangehörige sind laut der Wirtschaftsauskunftei Creditreform an den drei Unternehmen beteiligt. Ihr Vermögen wird auf 2,9 Milliarden Euro geschätzt. Grünenthal ist damals wie heute das Zugpferd der Gruppe. Nach eigenen Angaben unterhält der Arzneimittelhersteller (Schmerzmittel "Tramal") heute Niederlassungen in 26 Ländern und beschäftigt weltweit 4.800 Mitarbeiter. Grünenthal macht 2004 einen Umsatz von 726 Millionen Euro. In einer 27-seitigen Selbstdarstellung der Firmengeschichte nehmen "Contergan und die Folgen" im Jahr 2006 gerade einmal eine Seite ein. Es habe sich um eine "nicht absehbare Tragödie" gehandelt.

Neue Signale im Jubiläumsjahr?

2006 wurde Grünenthal 60 Jahre alt. Ob sich der Umgang der Firma mit der von ihr verursachten Katastrophe ändert, scheint noch offen. Einerseits erklärte Geschäftsführer Sebastian Wirtz in der Süddeutschen Zeitung: "Wir haben beschlossen, uns zu öffnen und bei der Aufarbeitung der historischen Wahrheit zu helfen. Wir wollen nichts totschweigen."

Andererseits hat Grünenthal einen Prozess geführt, um die Ausstrahlung eines ARD-Zweiteilers über die Contergan-Katastrophe zu verhindern. Der Fernsehfilm verarbeitet die Geschehnisse in einer Spielhandlung. Die Firma sieht darin ihre "Unternehmenspersönlichkeitsrechte" verletzt. Grünenthal selbst will zum Jubiläum ein Buch herausgeben, das auch ein Kapitel über Contergan erhält. Die Verantwortlichen bei Grünenthal hätten keine Fehler gemacht, sagt Sebastian Wirtz in einer seiner seltenen Presse-Äußerungen. Das Problem seien "besondere Zeitumstände" gewesen, nämlich das damals mangelhafte Arzneimittelrecht

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