Stichtag

25. Juni 2002 – Nationale Bildungsstudie Pisa-E vorgestellt

Im Dezember 2001 erschüttert die Pisa-Studie der OECD die Öffentlichkeit. Von 32 teilnehmenden Ländern erreicht Deutschland nur Rang 21. Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften – die Leistungen 5.000 getesteter deutscher 15-Jähriger liegen unter dem OECD-Durchschnitt, nach Finnland, Japan, Frankreich und sogar den schulisch belächelten USA. Die schlimmste Botschaft der internationalen Bildungsstudie: Jeder vierte 15-Jährige kann nicht richtig lesen und schreiben und gehört zur Risikogruppe, ist also kaum fähig zu Aus- und Weiterbildung. Nur beim "sozialen Gradienten", dem Gradmesser für Ungerechtigkeit im Bildungssystem, erreicht Deutschland mit 45 Punkten die Höchstpunktzahl.

Welche Bundesländer liegen unter dem OECD-Durchschnitt?

Weil Bildung in Deutschland Ländersache ist, lassen die aufgerüttelten Kultusminister zusätzlich zum Pisa-Test eine Ergänzungsstudie durchführen, die Pisa-E-Studie. 50.000 Schüler an knapp 1.500 Schulen in allen Bundesländern beteiligen sich, ausgenommen Berlin und Hamburg, die mangels Rücklauf an Prüfungsbögen nur im Gymnasialvergleich vertreten sind. "Pisa-E war insofern ein zusätzlicher Schock, als jetzt einzelne Bundesländer sahen, dass sie unterhalb des ohnehin nicht guten deutschen Durchschnittes lagen", sagt Klaus Klemm, Bildungswissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen.

Zu viele Risikoschüler in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Bremen

Pisa-E, veröffentlicht am 25. Juni 2002, bestätigt den Befund der internationalen Studie: Kein Land erreicht in der Lesefähigkeit die Spitzenwerte Finnlands. Allein Bayern liegt mit 510 Punkten über dem OECD-Durchschnitt von 500 Punkten und damit vor Ländern wie Österreich, Frankreich und den USA. Baden-Württemberg und Sachsen erreichen den Schnitt genau. "Schüler in den restlichen elf Ländern der Bundesrepublik erzielen Leistungen die unterhalb des Durchschnitts der OECD-Staaten liegen", heißt es in der Studie. Die Streuung ist enorm: Bremen erreicht bei der Lesekompetenz nur 448 Punkte, liegt also auf dem Niveau von Luxemburg. Bei den drei Schlusslichtern Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Bremen macht die Gruppe der Risikoschüler sogar fast ein Drittel der 15-Jährigen aus. Einen höheren Anteil hat nur Mexiko.

Politik mit Pisa

Kurz vor der Bundestagswahl 2002 spielt den CDU-Kultusministern das schlechte Abschneiden der SPD-regierten Länder mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz in die Hände. "Jetzt zeigt sich: In den unionsregierten Ländern sind wir nicht nur besser im Hinblick auf Leistung - wir haben eine viel geringere Risikogruppe - sondern wir sind auch deutlich besser, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht. Und das ist eigentlich die beste Botschaft", erklärt Annette Schavan, damals Kultusministerin von Baden-Württemberg. SPD-Generalsekretär Franz Müntefering kontert: "Wir spielen insgesamt in der 2. Klasse. Wir müssen insgesamt als Nation, als Deutschland, in die 1. Klasse kommen und darauf richtet sich unser Bemühen."

Die Vermessung der Bildung wird Normalität

Die empirische Wende habe einen hilfreichen Schock ausgelöst, meint der Bildungswissenschaftler Klaus Klemm. "Wir waren bis dahin davon überzeugt, dass unsere Gymnasien wirklich gut seien. Und dann erreicht uns die Meldung, andere Länder kommen mit anderen Systemen zu Spitzenleistungen, von denen wir nur träumen können." Laut Bildungsforschern sei das der wichtigste Erfolg von Pisa: Die Vermessung der Bildung, früher ein Tabu, ist heute Normalität. Dennoch bleiben nach der Evaluierung durch Pisa-E viele Fragen offen: Die Zahl der Unterrichtsstunden, die Höhe der Pro-Kopf-Ausgaben je Schüler und der Prozentsatz an Abiturienten – all das hängt nicht eindeutig mit guten oder schlechten Pisa-E-Noten zusammen.

Deutsche Schüler haben sich seit 2002 verbessert

Seit Pisa-E haben Bildungspolitiker Schulinspektionen, Vergleichsarbeiten und in den meisten Bundesländern das Zentralabitur eingeführt. Zudem wacht ein Institut an der Berliner Humboldt-Universität über die nationalen Bildungsstandards. Die Pisa-Studie 2009 belegt, dass deutsche Schüler bei der Lesefähigkeit ins Mittelfeld gerückt sind, in Mathematik und Naturwissenschaften sogar überdurchschnittliche Leistungen erzielen. Bei den Naturwissenschaften legten sie gar 33 Punkte zu, was fast dem Wissen eines gesamten Schuljahres entspricht. Auch den Titel "Weltmeister der Ungerechtigkeit" hat Deutschland an Belgien, Luxemburg, Ungarn und die tschechische Republik abgegeben: Der "soziale Gradient" liegt mittlerweile bei einem Wert von 35, also im OECD-Durchschnitt.

Stand: 25.06.2012

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