Plötzlich einsetzender Regen bringt das feierliche Zeremoniell der Staatsgründung arg ins Wanken. Auf den Rängen der einzigen überdachten Tribüne im Stadion vor den Toren von Windhoek wird es unprotokollarisch eng: Leibwächter drängeln, um das Großaufgebot an Staatsoberhäuptern ins Trockene zu bugsieren, Diplomaten aus 147 Ländern treten sich gegenseitig auf die Füße und Perez de Cuellar redet länger als vorgesehen. Als der UN-Generalsekretär nach Mitternacht zum Ende seiner Schilderung des hürdenreichen Unabhängigkeitsprozesses findet, ist der historische Tag bereits angebrochen; das für Punkt 24.00 Uhr geplante Einholen der Fahne der Besetzungsmacht Südafrika muss um einige Minuten verschoben werden. So tritt Namibia in der Nacht zum 21. März 1990 nach mehr als hundertjähriger Fremdbestimmung mit etwas Verspätung seinen Weg in die Freiheit an. Illuminiert von einem Feuerwerk in den Landesfarben Blau-Rot-Grün, wird aus der letzten noch existierenden afrikanischen Kolonie, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, die unabhängige Republik Namibia.
Auch in der jungen Republik ist die koloniale Vergangenheit noch allgegenwärtig. Deutsch war, neben Afrikaans und Englisch, bis 1990 Amtssprache – ein Erbe, dass wesentlich auf den Bremer Großkaufmann Adolf Lüderitz zurückgeht. Um 1880 gelingt es ihm in Verhandlungen mit Stammeshäuptlingen, große Gebiete jenseits der Namib-Wüste an Afrikas Südwestküste zu erwerben. 1884 erklärt das Deutsche Reich die Lüderitz-Besitzungen zunächst zum "Schutzgebiet" und kurz darauf zur Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Zehn Jahre später sorgt der von den Kolonialherren mit äußerster Brutalität geführte Krieg gegen die Hereros für weltweite Empörung. Nur knapp entgeht der Stamm der völligen Ausrottung. Während des Ersten Weltkriegs besetzen Briten und Südafrikaner das Land. 1920 übergibt der Völkerbund Namibia als Treuhandgebiet an Südafrika, das den an Bodenschätzen reichen Nachbarn fortan wie eine Provinz vereinnahmt und ausbeutet.
1966 sprechen die Vereinten Nationen Südafrika das lukrative Mandat wieder ab, doch das Apartheid-Regime reagiert nicht. Es kommt zu bewaffneten Konflikten mit der jungen Unabhängigkeitspartei SWAPO (South-West Africa People’s Organisation), gegründet von der größten namibischen Volksgruppe, den Ovambo, und mit deren Stammesobersten Sam Nujoma an der Spitze. Zwei Jahrzehnte lang kämpft die SWAPO einen erbitterten Befreiungskrieg gegen die Besatzer, der von beiden Seiten gnadenlos geführt wird und dem am Ende unter der Zivilbevölkerung etwa 20.000 Menschen zum Opfer fallen. Im September 1978 reagiert die internationale Staatengemeinschaft und verabschiedet im UN-Sicherheitsrat die "Resolution 435" zum Rückzug der illegalen Verwaltung Südafrikas aus Namibia. Doch das Töten, angefeuert von amerikanischer Unterstützung auf der einen Seite und sowjetisch-kubanischer auf der anderen, hält noch zehn Jahre an.
Erst als sich Kuba 1988 aus dem Kriegsgebiet zurückzieht, ist der in der UN-Resolution 435 vorgezeichnete Weg zu Namibias Unabhängigkeit offen. Bei den ersten freien Wahlen erhält die SWAPO 57,3 Prozent der Stimmen. In jener verregneten Nacht der Unabhängigkeitsfeier in Windhoek wird Sam Nujoma von UN-Generalsekretär Perez de Cuellar als erster Präsident der Republik Namibia vereidigt.
Stand: 21.03.10