"Wir haben die Grenzpfähle verbrannt", erklärt Europa-Aktivist Marcel Mille am 6. August 1950. Zusammen mit rund 300 Gleichgesinnten aus acht Ländern hat er die deutsch-französische Grenze bei St. Germanshof in der Südpfalz besetzt. Ihm genügt es aber nicht, Grenzpfähle zu verbrennen: "Sie müssen behandelt werden, als wenn sie nicht da wären." Das politische Happening für ein grenzenloses Europa ist seiner Zeit weit voraus. Zwar wächst der alte Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich zusammen, aber bis dahin lediglich als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).
Erst Jahre später trauen sich fünf Länder an eine Grenzöffnung für die Bürger. Symbolischer Schauplatz dafür ist Schengen an der Mosel - ein Dorf in Luxemburg, das unmittelbar an Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland grenzt. Dort wird am 14. Juni 1985 an Bord des Passagierschiffs "Princesse Marie-Astrid" das sogenannte Schengener Abkommen beschlossen: Frankreich, Deutschland und die Benelux-Staaten einigen sich darauf, an den Binnengrenzen dieser Länder die Personenkontrollen vollständig abzubauen.
Mauerfall verzögert Umsetzung
Das Vertragswerk hat zunächst wenig Resonanz in der Öffentlichkeit. "Niemand maß dem eine große Bedeutung zu", sagt Robert Goebbels, ehemaliger Luxemburger Staatssekretär, der für sein Land das Schengener Abkommen unterzeichnet hat. Zumal die fünf Vertragsstaaten die Öffnung im Alleingang beschlossen haben. Die übrigen Mitgliedsstaaten - Italien, Griechenland, Dänemark, Großbritannien und Irlands - lehnten sie zu diesem Zeitpunkt noch ab. "Uns wurde gewissermaßen vorgeworfen, wir würden ein Europa der zwei Geschwindigkeiten einläuten", so Goebbels. "Das ist auch wahr."
Aber die Öffnung der innereuropäischen Grenzen verzögert sich, weil im November 1989 die Berliner Mauer fällt. "In letzter Minute hat Hans-Dietrich Genscher, damals Außenminister, die Notbremse gezogen", so der luxemburgische Ex-Staatssekretär Goebbels. "Damals lag die Wiedervereinigung in der Luft und Genscher und seine Juristen fürchteten, dass mit dem Schengen-Abkommen eine neue Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR gezogen würde." Diese Bedenken werden ausgeräumt: Die Außengrenze der Schengen-Staaten liegt damals an der Oder-Neiße-Grenze.
Asylrecht wird geändert
Am 19. Juni 1990 wird das Schengener Abkommen durch ein weiteres Übereinkommen konkretisiert. Es regelt nicht nur die Aufhebung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen der Vertragsstaaten, sondern auch die sogenannten Ausgleichsmaßnahmen zur Gewährleistung der Inneren Sicherheit. Dazu gehört die einheitliche Kontrolle der Außengrenzen, ein gemeinsames Fahndungssystem und internationale Rechtshilfe. Auch die Einreisebedingungen nach Europa sollen geändert werden: Jeder Flüchtling soll nur ein Asylverfahren durchlaufen können - und zwar in dem Land, in das er zuerst eingereist ist.
Das führt zu weiteren Verzögerungen. Denn damit die Bundesrepublik die asylrechtlichen Bestimmungen des Schengener Abkommens erfüllen kann, muss zunächst das Grundgesetz dementsprechend geändert werden. Am 6. Dezember 1992 einigen sich Union, FDP und SPD auf einen sogenannten Asylkompromiss. Nominell soll das individuelle Asylrecht für politisch Verfolgte zwar erhalten bleiben. Die Einreise von Asylbewerbern aber soll drastisch eingeschränkt werden. Wer über EU-Staaten oder andere "sichere Drittstaaten" kommt, in denen die Genfer Flüchtlingskonvention gilt, soll sofort abgewiesen werden können. Die Neufassung des Grundgesetzartikels 16 wird am 26. Mai 1993 vom Bundestag mit großer Mehrheit angenommen. Während offiziell von europäischer "Harmonisierung der Asylpolitik" die Rede ist, sprechen Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen von der "Festung Europa" und dem Ausstieg aus einem humanen Asylrecht.
Bislang 26 Schengen-Vertragsstaaten
Das Schengener Abkommen tritt schließlich am 26. März 1995 in Kraft. In der ersten Phase kann man unkontrolliert durch sieben Länder reisen, denn auch die neuen Schengen-Vertragsstaaten Spanien und Portugal beteiligen sich an der Öffnung der Binnengrenzen. Mittlerweile hat sich der Schengener Raum auf 26 Teilnehmerstaaten ausgedehnt.
Stand: 26.03.2015
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