Buchcover: "Wir, die Familie Caserta" von Aurora Venturini

Lesefrüchte

"Wir, die Familie Caserta" von Aurora Venturini

Stand: 09.02.2024, 11:59 Uhr

Eine argentinische Pippi Langstrumpf? Ein weiblicher Rimbaud? Oder doch ein Fall für die Psychiatrie? Dieses Mädchen ist ein Monster. Es ist herrlich! Aurora Venturini erschafft Frauenfiguren ohne gleichen!

Eine hinkende alte Frau namens Chela hat sich auf den Dachboden ihres Hauses geschleppt, um in der Vergangenheit zu wühlen. Sie ist in eine alte Truhe geklettert und jetzt steht sie da, knietief in vergilbten Briefen, Fotos, Gutachten und Dokumenten. Die Erinnerungen, die sie ergreifen, sind schön. Und entsetzlich.

Ein Foto zeigt die alte Frau als Vierjährige. Chela erkennt "den Kobold der hässlichen Hemisphäre meines zukünftigen Leids". Sie weiß: Ihre Zeit in der Hölle hatte vier Jahre vor dem Foto begonnen: am Tag ihrer Geburt. Wer so spricht, scherzt nicht. Und Chela scherzt tatsächlich nie.

Wer so spricht, verfügt andererseits aber offensichtlich über ganz ungewöhnliche intellektuelle und sprachliche Mittel. Mittel, die es erlauben, das eigene Leben zu einem spektakulären, beinah schon mystischen Kunstwerk zu verklären. Und das passiert hier.

Chela wird, genau wie ihre Erfinderin Aurora Venturini, am 20. Dezember 1921 geboren. Sie wächst in einer großbürgerlichen Familie auf, für die das Wort dysfunktional ein Kompliment wäre. Chela ist ein hochbegabtes Kind, das mit drei Jahren Gedichte liest, Tiere und ihren Bruder liebt und sich von ihrer rabiaten Familie nichts, aber auch gar nichts gefallen lässt.

Die Erwachsenen haben Angst vor diesem Kind, betrachten es als Gefahr und als bösen Geist. Alle, selbst die Großmütter, halten sie für "die Pest". Nicht ohne Grund. Aurora Venturinis autobiografisch schattierte Heldin ist eine radikale Nonkonformistin. Sie ist aber auch eine schroffe, im Grunde vollkommen asoziale Exzentrikerin.

Manchmal wirkt Chela wie eine argentinische Pippi Langstrumpf. Aber in diesem Mädchen ist ein finsterer Kern, der das Herz gefrieren lässt. Beinah schon zwangsläufig führt Chelas Weg bald zu Kunst und Literatur und aus Argentinien weg nach Frankreich und Italien. Immerhin heißen Chelas Götter seit der Kindheit Rimbaud, Proust und Rilke.

Aurora Venurini erzählt dieses ebenso apokalyptische wie atemberaubende Leben in einer herrlich poetischen Sprache, fernab von jedem Realismus und immer frei nach einem Satz des römischen Dichters Horaz, der dem Buch vorangestellt ist: "Malern und Dichtern war es stets erlaubt zu wagen, was immer beliebt." Wahrlich eine Entdeckung, diese Aurora Venturini - niemand erschafft Frauenfiguren wie sie!

Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Aurora Venturini: Wir, die Familie Caserta.
Aus dem Spanischen von Johanna Schwering.
dtv, 2024.
240 Seiten, 24 Euro.