Buchcover: "Spur und Abweg" von Kurt Tallert

Lesefrüchte

"Spur und Abweg" von Kurt Tallert

Stand: 01.03.2024, 14:41 Uhr

Dass in seiner Familie etwas anders ist, merkt Kurt Tallert bereits in frühester Kindheit im behüteten Bad Honnef. Seien es kaum wahrnehmbare Schwingungen zu gewissen Anlässen, der siebenarmige Leuchter im Arbeitszimmer von Vater Harry, oder auch dessen bisweilen schwieriges Naturell.

Bis der kleine Kurt eines Tages erfährt: sein Vater war als sogenannter "Halbjude ersten Grades" im Nationalsozialismus Ausgrenzung, Haft und Zwangsarbeit ausgesetzt. Der recht große Altersunterschied der beiden – Vater Harry war bei seiner Geburt bereits 58 Jahre alt – stellt eine Besonderheit dar.

Die Auseinandersetzung mit dem Erbe eines Shoahüberlebenden überspringt hier quasi die Boomer-Generation und landet direkt auf den Schultern Kurt Tallerts, Jahrgang 1986. Das Gefühl der Fremdheit lässt Kurt Tallert bis heute nicht los.

Er attestiert sich selbst eine starke Sensibilität gegenüber behördlicher Anonymität, geschichtlicher Ignoranz oder blindem Gehorsam Autoritäten gegenüber. Und er beginnt zu begreifen, dass es sich hierbei um Rudimente vererbter Traumata handelt. Der Vater stirbt kurz vor Kurts zwölftem Geburtstag.

"Spur und Abweg" ist so auch eine bewegende Annäherung an einen geliebten Menschen. Um mehr über seine Familie väterlicherseits zu erfahren, von denen einige in der Shoah ermordet wurden, reist Tallert durch Deutschland und bis ins Konzentrationslager Theresienstadt nach Tschechien, wo sein jüdischer Großvater einsaß und bar jeder Wahrscheinlichkeit überlebte.

Tallert spricht mit Menschen vor Ort, korrespondiert mit entfernten Familienmitgliedern, bemüht eigene Erfahrungen, zieht Fachliteratur heran und reflektiert auf eigene unnachahmlich assoziative Weise. Außerdem bedient er sich des geistigen Nachlasses von Vater Harry. Dessen Notizen, Briefe, Gedichte und Tonbandaufnahmen zeugen von kolossaler Existenzangst und der Unfähigkeit, das erlebte Grauen zu begreifen.

Der als Retrogott bekannte Rap-Musiker Kurt Tallert erweist sich auch im Buchformat als umsichtiger, eloquenter Wortakrobat, der sich erfolgreich Klischees und Denkroutinen widersetzt. Er hat ein Auge für Details. Im Abnormen, Abwegigen findet er überraschende Antworten.

"Spur und Abweg" ist eine gelungene Mischung aus Selbsterkundung, Porträt und Zeitdiagnose. Autor Tallert findet hier einen unmittelbaren und persönlichen Zugang zu Deutschlands dunkelster Stunde und macht die Vergangenheit für uns gegenwärtig. In der aktuellen Lage kommt das Buch keine Sekunde zu früh.

Eine Rezension von Moritz Holler

Literaturangaben:
Kurt Tallert: Spur und Abweg
DuMont Buchverlag, 2024
240 Seiten, 24 Euro