Anton Čechov konnte das Wetter und die Jahreszeiten beschreiben wie kein zweiter. Auch den Herbst. Den Regen und die Wolken, den Wind über den Feldern, den Sonnenschein nach dem Sturm, den ersten Frost. Aber Nature Writing war nicht sein Metier.
Čechov ging es auch in den einundzwanzig Herbstgeschichten, die hier versammelte sind, immer um die Menschen. Beamte und Ärzte, Lehrer und Bauern, Gutsbesitzer und Musiker, Arme und Reiche, betrunken und nüchtern. Dazu: jede Menge eigensinniger Frauen.
Ein Vater erzählt in der Sauna, wie schwer es heutzutage sei, eine Tochter unter die Haube zu bringen. Ein Finanzbeamter träumt ein Leben lang von einem Garten mit Stachelbeerbüschen. Ein junger Dandy fährt anderthalb Stunden mit dem Kutschwagen durch übelstes Herbstwetter und freut sich wie ein König auf seine schöne, warme, weiche Geliebte. Doch als er dann pitschnass klingelt, ist ihr französischer Ehemann zurück.
Zuallererst aber ist der Herbst natürlich auch bei Čechov eine Zeit der melancholischen Einkehr und Rückschau. Draußen regnet es, drinnen sitzen Čechovs Helden und erzählen. Von vergangenen Zeiten, von verspielten Chancen und von verlorener Liebe.
In der vielleicht schönsten Geschichte erinnert sich eine Frau N daran, wie sie einst mit dem lokalen Untersuchungsrichter zur Bahnstation ritt, um die Post zu holen. Erst roch es nach Regen und geschnittenem Gras, dann lief der Wind durch Roggen und Hafer, dann kam der Regen. Als die beiden sich unter ein Dach gerettet haben, bekennt der junge Mann seine Liebe.
Allerdings: die sozialen Mauern zwischen den beiden hatte nur der herrliche Herbststurm für einen kurzen Moment des Glücks eingerissen. Anton Čechov aber kann man zu allen Jahreszeiten lesen. Es ist ein Geschenk.
Eine Rezension von Uli Hufen
Literaturangaben:
Anton Čechov: Späte Blumen. Herbstgeschichten
Aus dem Russischen von Peter Urban
Diogenes, 2023
256 Seiten, 25 Euro
