Buchcover: "Fone Kwas oder Der Idiot" von Georgi Demidow

Lesefrüchte

"Fone Kwas oder Der Idiot" von Georgi Demidow

Stand: 10.11.2023, 15:46 Uhr

Eine Entdeckung zur rechten Zeit: Der russische Autor Georgi Demidow erzählt vom Kampf des Menschen gegen die Staatsmaschine.

Es ist eine Nacht, wie sie sein soll, jetzt im Vorfrühling, in dieser namenlosen südlichen Stadt, irgendwo in der Ukraine wahrscheinlich: Es regnet und ein warmer Wind trägt den Duft von geschwollenen Knospen herbei. Aber sonst ist hier nichts mehr, wie es sein sollte.

Zwei Männer in Mänteln führen einen schwankenden, nervösen Mann zum wartenden Auto. Seine Mütze segelt in den Schlamm, die Tür schlägt zu. Der Ingenieur Rafail Belokrinitskij ist verhaftet. Der Beginn von Georgi Demidows grandioser Erzählung "Fone Kwas" wirkt wie eine Szene aus einem Kriminalfilm. Aber was dann folgt ist keine Kriminalgeschichte, sondern ein Abstieg in die Hölle des 20. Jahrhunderts.

Jene Hölle, in der Menschen mit Kopf, Herz und Seele zu Millionen in die Gewalt eiskalter bürokratischer Staatsmaschinen gerieten. Jene Hölle, für die auch der Name Kafka steht. Georgi Demidow wusste darüber alles. Geboren 1908 in eine Petersburger Arbeiterfamilie, wurde Demidow ein begabter Physiker, seine Karriere verdankte er dem sowjetischen Bildungssystem.

Zwischen 1938 und 1952 verbrachte er beinah 15 Jahre in den Lagern an der sibirischen Kolyma, dem Inbegriff des Gulag-Systems. Genau wie sein Mithäftling, der weltberühmte Warlam Schalamow, wollte auch Georgi Demidow Zeugnis ablegen über das was er in den Lagern erfahren hatte. Nicht über den Sozialismus oder über Russland, sondern über das Leben und das Wesen des Menschen.

Wichtig bei der künstlerischen Beschäftigung mit Lagern und Terror war eine fanatische Präzision im Detail. Noch wichtiger: ebenso fanatische Ehrlichkeit. Immerhin ging es hier um das Grundproblem des Jahrhunderts: Was passiert, wenn der Mensch in die Maschine gerät?

So wie Rafail Belokrinitskij in "Fone Kwas" - einer Erzählung, die 1964 entstand. Belokrinitskij versucht - seinem Wesen entsprechend - klug zu sein. Er will der Logik des Unbegreiflichen auf die Spur kommen und glaubt bald, einen Hebel gefunden zu haben.

Vielleicht, ja vielleicht kann man irrer sein, als das irre System? Und so gewinnen? Georgi Demidows „Fone Kwas oder Der Idiot“ ist eine großartige Entdeckung. Sie kommt spät, aber im richtigen Moment.

Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Georgi Demidow: Fone Kwas oder Der Idiot
Aus dem Russischen von Irina Rastorgueva und Thomas Martin
Galiani Verlag, 2023
204 Seiten, 22 Euro