Buch der Woche

"Hohle Räume" von Nora Schramm

Stand: 15.03.2024, 14:11 Uhr

Wenn das Leben der Eltern auseinander fällt, erkennen die Kinder, woraus es bestand! "Die Mutter" und "der Vater", wie die beiden in Nora Schramms fabelhaftem Debütroman "Hohle Räume" fast durchgängig genannt werden, wollen sich scheiden lassen.

Die Eltern stehen am Bahnhof von Stuttgart, gleich kommt die erwachsene Tochter Helene mit dem ICE aus Berlin. Aber etwas stimmt nicht: zwischen den Eltern ist soviel Platz, man könnte zwischen der Frau und dem Mann durchgehen ohne zu ahnen, dass sie zusammengehören. Oder besser gesagt: zusammengehört haben. Und das Reihenhaus, in dem Helene aufgewachsen ist, enthält nun nur noch "Hohle Räume". Man könnte auch sagen: tote Räume.

Alles Leben, das hier irgendwann mal zu finden gewesen sein könnte, ist schon lange in irgendwelchen unsichtbaren Ritzen versickert. Wir sind in Findelheim, einem fiktiven Vorort von Stuttgart, wo "die stetigen, die ausgezeichneten Daimler-Mitarbeiter (wohnen), die sich über Jahrzehnte hinaufgearbeitet haben, geduldig, ohne beim Chef zu meckern, vielleicht bei den Ehefrauen, aber niemals beim Chef!" Dies ist eine von vielen kleinen, genauen Beobachtungen, die die Erzählerin Helene macht. Eine Künstlerin ist Helene, erfolgreich in Berlin und der Welt, die nicht mehr malt, sondern „"Räume macht".

Und je mehr man mit Helene eintaucht in die Findelheimer Welt, umso mehr staunt man über die kalte Präzision, mit der sie das Leben ihrer Eltern und deren ganze Welt seziert. Ja mehr noch: Man staunt über Helenes Erbarmungslosigkeit. Der Vater ein wortkarger, gefühlskalter Arzt, der als Pharmaberater arbeitet, weil menschliche Körper "nicht seins" sind. Die Mutter eine frustrierte weil studierte Hausfrau, die die Leere in ihrem Leben und die Angst und die Einsamkeit bekämpft mit Konsum, mit Penibilität, mit Tischdecken, einem falschem Dauerlächeln und mit geschmeidigen Lügen, die sie sich, ihrer Tochter und ihren Freunden erzählt über dieses tragische westdeutsche Traumleben im reichen, properen Findelheim.

"Hohle Räume" ist auch ein Roman über sozialen Aufstieg, famosen Wohlstand und über den Preis, der dafür entrichtet werden muss. Niemand in der deutschen Literatur hat je so brutal über Espressomaschinen, Sofas und Carports geschrieben, wie Nora Schramm. Und dann ist da noch Molly, ein Mädchen, dass für die Erzählerin Helene wie eine Schwester war und für Helenes Mutter wie ein Spielzeug. Ein Kind, auf das sie ihre Träume projizieren konnte. Ein Kind aus "schwierigen Verhältnissen", das über Jahre in der Familie lebte und dann von einem Tag auf den anderen verschwunden war.

Dann aber taucht Molly wieder auf, "die Mutter" fällt die Treppe hinunter und alles wendet sich auf erstaunlich verblüffende und einfallsreiche Weise in Richtung Licht. 10 Tonnen Sand spielen eine große Roll dabei. Ebenso Schmerzen, die zum ersten Mal eingeräumt und anerkannt werden. Schwer zu sagen, ob "Hohle Räume" in den Stuttgarter Daimler-Vororten ein großer Hit sein wird. Aber es wäre schade, wenn nicht. Die Wahrheit muss ans Licht und "Hohle Räume" von der gerade 30-jährigen Nora Schramm ist ein literarisches Ereignis!

Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Nora Schramm: Hohle Räume
Matthes & Seitz Berlin, 2024
237 Seiten, 22 Euro