Zum Tode von Rupert Neudeck: Menschenfischer und Dickkopf
Stand: 01.06.2016, 12:50 Uhr
Radikal, bedenkenlos und tief gläubig: Rupert Neudeck war ein Krisenmanager der ganz besonderen Art. Er wollte Menschen retten, ob vietnamesische Flüchtlinge, Flutopfer und Hungernde in Nordkorea. Am Dienstag (31.05.2016) ist der "Cap Anamur"-Gründer im Alter von 77 Jahren gestorben.
Von Marion Kretz-Mangold
Knorrige Nase, listige Augen, weißer Seemannsbart: Rupert Neudecks Gesicht ist fest im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert, und es braucht nur die Stichworte "boat people" und "Cap Anamur", um es herauf zu beschwören. "Cap Anamur" ist der Name des alten Frachters, den der Journalist im Sommer 1979 losschickt, um vietnamesische Flüchtlinge aus dem Meer zu fischen – ohne eigenes Geld und ohne offiziellen Segen, aber mit ungeheurer Wirkung. Mehr als 11.000 Vietnamesen, die vor dem kommunistischen Regime fliehen, finden in Deutschland eine neue Heimat. Und die Hilfsaktion wird zum Startschuss für viele andere, im Kongo und im Kosovo, im Sudan und in Syrien.
Das Überleben: ein Zufall
Warum ist er "so furchtbar aufgeregt", als er von der Tragödie im Südchinesischen Meer hört? Warum lässt er sich auch danach immer wieder vom Schicksal der Flüchtlinge anrühren? Das fragt sich auch Neudeck lange, bis er sich an seine eigene Geschichte erinnert. Der kleine Rupert, am 14. Mai 1939 in Danzig geboren, flieht im Winter 1945 mit Mutter und Geschwistern aus Danzig. Die Russen kommen, und die "Wilhelm Gustloff" soll sie in Sicherheit bringen. Die Familie verpasst das Schiff – und überlebt. Denn die "Gustloff" wird torpediert, Tausende an Bord kommen ums Leben. Sie schlagen sich durch, bis nach Westfalen, wo sie in den Suppenküchen der Quäker durchgefüttert werden. "Noch heute habe ich den Geschmack auf der Zunge", erinnert er sich. Es ist das Ende einer Odyssee, die tiefe Spuren in Neudeck hinterlässt.
Kleine Brüche in der Biographie
Schüler in Hagen, Student in Münster und Bonn, Doktor der Philosophie, Familienvater und Journalist: ein ganz normaler, schnurgerader Werdegang, so scheint es. Aber da ist das Jahr bei den Jesuiten, das ein Intermezzo bleibt, weil er sich offensichtlich bei den asketischen Übungen zu viel abverlangt. Oder der Streit mit dem Arbeitgeber wegen eines kritischen Artikels, bei dem er nicht nachgeben mag. Neudeck kann stur sein, das zeigt sich schon früh. Er nennt das "radikal" – ein Begriff, der sein ganzes Leben und Denken durchzieht.
Ein Schiff und Spenden in Millionenhöhe
"Radikal sein, das heißt nicht feige und nicht opportunistisch sein", erklärt er im WDR. Also tut er das, was er für richtig hält, und zwar sofort. Zwar hat der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht schon ein Jahr zuvor vietnamesische Flüchtlinge aufgenommen, aber das ist Neudeck zu wenig. Er holt sich Unterstützung bei Heinrich Böll, verpfändet sein Haus, um ein Schiff zu kaufen, und wirbt in der ARD-Sendung "Report" um Spenden. Die Resonanz ist riesig: Drei dicke Säcke mit Einzahlungsbelegen warten in der Bank auf Neudeck, 1,5 Millionen Mark fließen in wenigen Tagen. Das "Schiff für Vietnam" kann sich am 9. August 1979 auf den Weg machen – und Rupert Neudeck hat seine Lebensaufgabe gefunden.
"Illegaler Schleuser"
Denn es gibt immer neue Krisenregionen, in denen Neudeck helfen will, als Notmaßnahme oder als Hilfe zur Selbsthilfe. Und so baut die Organisation, der Neudeck 1982 den Namen "Cap Anamur/Notärzte e.V." gibt, Krankenhäuser im Sudan, Schulen in Afghanistan und medizinische Ambulanzen im Kosovo. "Selbst anpacken und nicht erst lange auf den Staat warten", ist die Devise. Das bringt ihm gleich beim ersten Einsatz der "Cap Anamur" den "heftigsten Anschiss meines Lebens", er wird sogar als "illegaler Schleuser" bezeichnet, weil er den gesamten deutschen Beamtenapparat umgeht – aber er lässt sich nicht beirren: "Es kann nicht wichtig sein, sich eine Erlaubnis zu holen, um Ertrinkende zu retten."
Schulferien in den Krisenregionen
Es ist ein anstrengendes Leben, das der "lebensfrohe Asket" Rupert Neudeck führt. Als Redakteur steigt er oft nach Dienstschluss ins Flugzeug, verbringt das Wochenende in einer Krisenregion und sitzt Montagsmorgens wieder am Schreibtisch. Getragen wird er von seinem tiefen Glauben – und von seiner Familie. Seine drei Kinder haben ihn öfter im Fernsehen als im heimischen Wohnzimmer erlebt, heißt es, er reist mit ihnen in den Schulferien auch bevorzugt in Krisen- statt in Urlaubsgebiete. "Gegen das Elend der Welt kann ich nicht anstinken", sagt seine Frau Christel, die das Leben in Troisdorf und die Einsätze in aller Welt organisiert. Sie ist es auch, die den "unermüdlichen Menschenretter" von einer anderen Seite zeigt. Für Small Talk in der Kneipe sei er nicht zu haben, klagt sie: "Er benimmt sich einfach unmöglich. Er sagt den ganzen Abend nichts. Oder er zwingt die Leute, seinen Ausführungen über Ruanda zu lauschen."
Ein "Stachel in meiner Seele"
Neudeck selbst räumt ein, er sei "nicht immer der Klügste und Mildeste" gewesen, und er kennt die Kritik an seinem Führungsstil. Aber er ist Gesicht und Kopf der Organisation. Sich selbst ein Bild von der Lage machen, dann Geld und Hilfswillige einwerben: Die "Methode Neudeck" funktioniert, bei der "Cap Anamur" wie bei den "Grünhelmen", die er 2003 ins Leben ruft. Es gibt aber auch Rückschläge. Als er Anfang 2001 Rinder, die nach der BSE-Krise geschlachtet werden sollen, nach Nordkorea schicken will, lässt ihn das Regime auflaufen. Zwölf Jahre später werden drei Grünhelme in Syrien entführt, allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz. Sie können sich nach langen Wochen selbst befreien, aber die Entführung war für ihn "das Schlimmste, was ich erlebt habe. Sie hat mein Innerstes erschüttert und ich spüre einen Stachel in meiner Seele." Wenig später legt er den Vorsitz bei den Grünhelmen nieder.
Es scheint, als sei der Macher an seine Grenzen gestoßen, so wie 2004, als sein Nachfolger Elias Bierdel im Mittelmeer afrikanische Flüchtlinge auf die neue "Cap Anamur" holt und dann von den Italienern verhaftet wird. Neudeck bekommt Angst um sein Lebenswerk und lässt seinem Zorn auf Bierdel freien Lauf: eine Seite an ihm, die die Öffentlichkeit nicht kennt. Der Ärger verfliegt aber: Bierdel wird abgelöst, der Ehrenvorsitzende kann sich wieder seinen Projekten widmen.
Flucht als Lebensthema
Ruhestand? Undenkbar. Auch wenn er weniger reist als früher: Es gibt einfach zu viele Projekte, die noch nicht verwirklicht sind. Also wünscht er sich zum 75. Geburtstag einen Marathon-Lauf durch den Gaza-Streifen und eine Eisenbahnlinie durch den Sudan. Arabisch will er auch noch lernen. Außerdem liegen so viele Themen in der Luft, zu denen er seine eigene Meinung hat. Die tut er auch kund, in Büchern, Interviews und unzähligen Artikeln. Papst Franziskus? "Große Klasse." Talkshows? Überflüssig. Lokführerstreik? Noch überflüssiger. Sein großes Herzensanliegen bleiben aber die Flüchtlinge, die aus dem Nahen Osten oder aus Afrika übers Mittelmeer nach Europa kommen: "13 Millionen Flüchtlinge wurden damals in Westdeutschland aufgenommen", erinnert er sich an seine eigene Kindheit. Dagegen sei doch die Zahl der Flüchtlinge heute "ein Klacks".
Das Recht auf eine eigene Meinung
Starke Worte und starke Bilder: Damit macht er Werbung für die humanitäre Sache. Weil er immer wieder auf eigene Erfahrungen zurückgreift, wirkt er glaubwürdig. Deswegen darf er Israel wegen der Siedlungspolitik kritisieren und von Flüchtlingen verlangen, dass sie hier innerhalb eines Jahres Deutsch lernen – oder in die alte Heimat zurückkehren. Besonders hohe Wellen schlägt es, als er fordert, dass die kurdischen Kämpfer deutsche Waffen bekommen. "Ich möchte nicht, dass Menschen sterben für die Reinheit meiner Philosophie, meines Pazifismus" – und das ausgerechnet vom "Urgestein der Friedensbewegung"? Aber Neudeck hat seinen eigenen Kopf, und der denkt quer.
Ordensträger, Ritter und Samariter
Neudeck hat viele Auszeichnungen bekommen – und das Bundesverdienstkreuz, wie er selbst erwähnt, zweimal abgelehnt. Er ist aber jedes Mal dabei, wenn die "Boat People" von einst ein rundes "Cap Anamur"-Jubiläum feiern. Und im heimischen Troisdorf, nicht weit von Neudecks Haus, steht eines der Flüchtlingsboote, aus denen sie an Bord des Schiffes gehievt wurden. Ob man ihn guten Gewissens einen guten Samariter nennen dürfe, wird er einmal gefragt. Seine Antwort: "Oh, das ist der schönste Ehrentitel, den ich mir vorstellen kann." Jetzt ist er im Alter von 77 Jahren in einer Klinik nach einer Herzoperation gestorben.
Anmerkung: In einer früheren Version des Beitrags hatten wir geschrieben, die "Wilhelm Gustloff" sei bombardiert worden. Sie wurde torpediert.