Silvester-Übergriffe waren laut Gutachter vermeidbar

Stand: 04.10.2016, 18:30 Uhr

  • Kriminologe hat Anzeigen aus der Kölner Silvesternacht analysiert
  • Polizei hätte viel früher eingreifen müssen
  • Die Dramatik der Nacht zeigen Aussagen von Opfern

Von Christian Wolf

Rund 1.000 Akten mit anonymisierten Anzeigen hat der Wiesbadener Kriminologe Rudolf Egg für ein Gutachten an den Untersuchungsausschuss des Landtages durchgearbeitet. Herausgekommen ist ein 50 Seiten langer Bericht, der die Kölner Silvesternacht aus der Perspektive der Opfer analysiert. Auch der Frage, ob die massenhaften Übergriffe hätten verhindert werden können, geht der Bericht nach - mit keinem guten Ergebnis für die Polizei. Das Papier liegt dem WDR vor und beinhaltet neben vielen Statistiken auch Schilderungen der Opfer. Zum Beispiel diese:

Fall 301: "Auf der Domplatte angekommen, wurden wir wirklich an allen Körperöffnungen unzählige Male berührt. Die Männer griffen uns zwischen den Schritt, an den Po und an die Brüste. (...) Sie griffen uns stärker zwischen den Schritt und pitschten hinein. Sie hatten keine Hemmungen mehr und hielten uns fest, schubsten zurück und öffneten und Taschen und Rucksäcke."

Welche Straftaten wurden angezeigt?

Menschenmenge am Kölner Hauptbahnhof

Vor dem Bahnhof versammelten sich die Gruppen junger Männer

Von den 1.020 in dem Gutachten untersuchten Delikten waren 30 Prozent (302) reine Sexualdelikte. Weitere 17 Prozent (175 Fälle) betrafen Eigentums- und Sexualdelikte - die Opfer wurden also bestohlen und sexuell belästigt. Mit weiteren 474 Fällen waren fast die Hälfte reine Eigentumsdelikte.

Fall 1198: "Ich trug am Tattag ein Kleid und darunter eine Strumpfhose. Die Männer griffen mir unter mein Kleid und versuchten, mit ihren Fingern durch meine Strumpfhose in meine Scheide einzudringen. (...) Später stellte ich noch den Diebstahl meines Handys fest."

Wann fanden die Straftaten statt?

Als Schwerpunkt nennt Gutachter Egg den Zeitraum zwischen 20.30 und 23.35 Uhr. Für die reinen Diebstähle habe es zudem später in der Nacht zwischen 1.20 Uhr und 6.00 Uhr noch einen Schwerpunkt gegeben.

Wo passierten die meisten Straftaten?

Ein Großteil (72,2 Prozent) der Delikte fand laut den Anzeigen im Freien statt. Nur rund ein Viertel (27,8 Prozent) passierte innerhalb des Bahnhofes, auf den Gleisen und in Zügen. Im Freien waren vor allem der Bahnhofsvorplatz (45,5 Prozent) und die Domplatte (22,9) die zentralen Tatorte.

Hat die Räumung des Bahnhofsvorplatzes geholfen?

Der Kriminologe und Psychologe Rudolf Egg

Kriminologe und Psychologe Rudolf Egg

Davon kann nicht ausgegangen werden - im Gegenteil. Gutachter Egg spricht davon, dass die Polizeiaktion kurz vor Mitternacht "offensichtlich keinen präventiven Effekt" hatte. Aus manchen Anzeigen ergebe sich sogar eine "deutliche Verschärfung der Situation". Dazu eine weitere Opferschilderung:

Fall 103: "Die Polizei versperrte die Domplatte und drängte uns alle nach außen an den Rand, hierbei wurden wir wieder mehrfach unsittlich berührt, ebenfalls im Intimbereich. (...) Wir baten einen Polizisten, uns zu helfen, der meine Schwester anschrie, sie solle sofort zurück an den Rand gehen, und schubste sie dorthin. Erneut wurde ich hinter mir von mehreren Händen angefasst und im Gesäß und den Gesäßtaschen meiner Hose befanden sich mehrere Hände."

Wie nahmen die Opfer die Arbeit der Polizei wahr?

In 68 Anzeigen entdeckte der Kriminologe Angaben zum Verhalten der Polizei. Fast die Hälfte davon bemerkte zwar die Anwesenheit von Beamten oder Sicherheitskräften, empfand diese aber als wenig hilfreich. In einem Fall gab es sogar eine Anzeige gegen die Polizei.

Fall 13: "Meine Freundin hat dann einen Polizisten angesprochen, der vor diesem Ausgang stand. Ich habe ihm geschildert, was mir passiert ist und habe ihm auch die Männer gezeigt, die dies waren, denn sie waren noch vor Ort. (...) Die Gruppe der Männer hat hinter dem Eingang immer weitergemacht und auch andere Leute belästigt. Und dies alles unter den Augen des Polizisten. Deshalb habe ich ihn aufgefordert, hier einzugreifen, was er allerdings nicht getan hat. Er sagte zu mir persönlich: 'Da kann ich nichts machen.'"

Fall 1035: "Wir haben uns durch die Menge durchgekämpft und sind zu einem Polizisten gelangt. Wir haben ihn um Hilfe gebeten, er hat uns aber zurück in die Menge geschoben (…) Ich gelangte dann zu einer Polizistin, die ich um Hilfe gebeten habe. Sie war noch pampiger als der erste Kollege und hat uns ebenfalls zurück in die Menge geschickt."

Fall 1286: "Einer dieser Männer fasste mir zwischen die Beine, leckte sich seine Finger danach ab und versuchte dann, mir diesen Finger in den Mund zu stecken. (...) Wir sprachen die Beamten an, dass wir Hilfe benötigten und versuchten, alles in der Hektik zu schildern. (...) Der eine Polizist ließ uns nicht ausreden, der andere drehte sich in Richtung Rheinufer und tat so, als ob er da etwas Wichtiges zu schauen hätte. Uns wurde dann erklärt, wir sollten uns beruhigen, es sei sicherlich nicht so schlimm gewesen und sie könnten uns nur raten, da nicht mehr hineinzugehen, sie würden es auch nicht tun, und alles würde sich regeln."

Zu welcher Schlussfolgerung kommt der Experte?

Zwar konnte Kriminologe Egg anhand der vorliegenden Anzeigen keine wissenschaftliche Analyse der Straftaten vornehmen. Er geht aber davon aus, dass es eine lose Form von Verabredungen gab, den Silvesterabend am Kölner Hauptbahnhof zu verbringen - eine Art Mundpropaganda in Flüchtlingsheimen und Wohnunterkünften. Aus kriminologischer Sicht seien Eigentums- und Sexualdelikte aber wahrscheinlich nicht das primäre Ziel der ganzen Gruppe gewesen, lediglich von kleinen Teilen.

Ein Mann wird am 01.01.2016 in Köln (Nordrhein-Westfalen) am Hauptbahnhof von Polizeibeamten abgeführt

Die Polizei hätte laut Gutachten früher eingreifen müssen

Den größten Fehler sieht Egg bereits früh am Abend. Zu Beginn habe die Menge wohl das Gefühl gehabt, "Teil einer großen und weitgehend anonymen Masse von Menschen zu sein, die keiner oder jedenfalls keiner sehr großen sozialen Kontrolle unterliegt". Dass erste Straftaten ohne nennenswerte Konsequenzen blieben, habe andere ermuntert, Ähnliches zu tun. Um diesen "Sogeffekt" zu vermeiden, wäre ein "möglichst rasches und vor allem frühzeitiges Eingreifen" von Polizei und Ordnungskräften erforderlich gewesen, schlussfolgert der Experte. Die Räumung des Platzes sei wahrscheinlich "erheblich zu spät" passiert. Die Stimmung habe sich bereits so stark in Richtung einer "offensichtlich risikolosen Möglichkeit zur Begehung von Sexual- und Eigentumsdelikten verändert", dass es auch in den darauffolgenden Stunden zu weiteren Übergriffen kommen konnte.

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