Matthias Nawrat: Über allem ein weiter Himmel
Rowohlt, 2024.
224 Seiten, 25 Euro.
2018 fährt Matthias Nawrat auf Einladung einer nicht näher benannten deutschen Organisation für ein paar Tage nach Tjumen. Diese westlichste Stadt Sibiriens liegt jenseits des Urals, knapp 1700 Kilometer von Moskau entfernt. Zusammen mit seinen Gastgebern besucht der Schriftsteller aus Deutschland Kirchen und Museen, und im Lesesaal des Goethe-Instituts werden Fotos vor Bücherregalen gemacht. Heikle politische Themen wie die Annexion der Krim werden elegant umschifft, doch am letzten Abend gerät der Gast dann doch noch gehörig ins Schwitzen. Er soll vor achtzig Leuten aus seinem Polenroman "Die vielen Tode unseres Opas Jurek" vorlesen.
Als er eine der Organisatorinnen namens Mascha fragt, ob sie die Auszüge, die er gleich vortragen werde, gut finde, erwidert sie, sie habe nur darauf geachtet, ob darin etwas über Russland vorkomme und ob etwas Schlechtes über Russland gesagt wird. Sie wolle ja nicht, dass er Probleme bekomme. Das macht Nawrat nur umso nervöser: Was kann, was soll er vorlesen, wie soll er sich in der anschließenden Diskussion verhalten? Ist er der arrogante Westeuropäer, wenn er auf sowjetische Verbrechen in Polen hinweist? Oder soll er sich ärgern über die Weigerung der Russen, sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen? Doch am Ende geht alles gut.
"Nach der Lesung kommen viele Leute zu mir und bedanken sich für meinen Vortrag. Wir sind wieder Freunde, ich finde alle wieder sympathisch. Aber die Kluft bleibt. Ich bin ein Fremder, der aufpassen muss, was er sagt. Ich komme von außerhalb, wo anders gedacht, Russland mit zu wenig Respekt behandelt wird. (…) Ich bin an eine Grenze gestoßen, an der man gezwungen ist, sich zu fragen, ob es einen ideologiefreien Blick auf die Wirklichkeit jemals geben kann – oder ob die Menschheit vielleicht wirklich auf ewig dazu verdammt ist, durch unterschiedliche Geschichts- und Gegenwartsnarrative in feindliche Lager getrennt zu bleiben."
Matthias Nawrat ist viel unterwegs im Osten Europas: Ob in Polen oder in Skopje, in Temeswar oder Ljubljana, in Minsk oder Nowosibirsk – stets ist er dort als Vertreter der jüngeren deutschen Literatur eingeladen, zu lesen und zu diskutieren. Und zugleich reist er als jemand, dem diese Welten Osteuropas qua Herkunft durchaus vertraut sind und dem vom Literaturbetrieb deshalb auch gerne das Etikett "Migrationsliteratur" angeheftet wird. Erfreulicherweise verweigert sich Nawrat solcherlei Zuschreibungen. Für ihn soll sich Literatur mit der Welt und den Problemen der Menschen befassen und nicht mit schriftstellerischen Identitätsfragen.
Diesem Prinzip folgt er auch bei seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen von den verschiedensten Reisen, die er zwischen 2013 und 2022 ins postkommunistische Europa unternommen hat. Er beobachtet, hört zu, will nicht urteilen, sondern erfahren und reflektiert im Lichte dieser Erlebnisse stets auch das eigene Tun als Schriftsteller. Die politischen Verhältnisse in Russland, aber auch in Polen unter der inzwischen abgewählten PiS-Regierung oder in Viktor Orbáns Ungarn machen ihm zu schaffen, doch daraus erwächst keine wohlfeile Kritik des selbstgewissen Westeuropäers, sondern der Versuch, die besonderen Verhältnisse zu begreifen – ohne sie damit zu entschuldigen.
Als er 2019 auf Einladung des Goethe-Instituts in Minsk weilt, ist er überrascht vom Optimismus, den die jungen Menschen in seinem Workshop ausstrahlen, von ihrem Glauben daran, dass jeder Mensch irgendwie sein kreatives Potenzial nutzen kann, von ihrer Zuversicht, dass sich die Welt verändern lässt. Und findet nicht nur hier am Ende Trost in Begegnungen, wie sie überall in Europa stattfinden könnten:
"Es ist Herbst, wie in ganz Europa, ein besonders leuchtender Herbst dieses Jahr. (…) In einer Unterführung unter dem Unabhängigkeitsprospekt singt ein junger Mann zur Gitarre. Überall auf der Welt, denke ich, gibt es diese traurigen, sensiblen jungen Männer, die nur ein paar Akkorde spielen können, aber dafür um so leidvoller singen, ganz egal, ob ihnen jemand eine Münze in die Gitarrentasche legt oder nicht. Eine Dame mit Einkaufstasche geht an ihm vorbei. Er singt auf Englisch, sie sagt etwas Nettes zu ihm auf Russisch, lässt eine Münze in die Gitarrentasche fallen."
Aufs Ganze gesehen wirkt Matthias Nawrats Reisetagebuch allerdings wie ein Verlegenheitswerk, das sich nicht so recht zu einer wirklichen literarischen Vermessung Osteuropas fügen will. Anders als das Vorgängerbuch über eine Reise nach Maine, ist es nicht dicht genug gewoben und zu heterogen geraten. Schade drum, hier wäre mehr drin gewesen.