T.C. Boyle: I walk between the Raindrops
Übersetzt aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren und Annette Grube.
Hanser, 2024.
272 Seiten, 25 Euro.
Alltagsszenen, wie zufällig aus dem Leben gegriffen: Ein Mann besichtigt den durch einen Erdrutsch verwüsteten Teil seiner Stadt – aus sicherer Entfernung. Er will sich nicht die Schuhe ruinieren.
"Es war ja auch nicht so, als könnte ich mich irgendwie nützlich machen – es trieb kein Baum vorbei, in dessen Zweigen ein Kleinkind hing. Da war nur Schlamm. Eine gewaltige Schlammsuppe."
Im Zug spricht eine Frau mit einem freundlichen jungen Computernerd über das mörderische Attentat an einer Schule. Er kannte den Täter:
"Er hatte eine Seele. Eine große Seele."
Bei einem anderen Mann steht plötzlich sein unbekannter Sohn vor der Tür:
"Der Junge war wie ein Hündchen, einer dieser Straßenköter in der Anzeige eines Tierheim, dem alle Bedürftigkeit, der Herzschmerz und die Sehnsucht der Welt aus den Augen blutete."
Nichts Besonderes also – eigentlich. Die Menschen in diesen Geschichten sind durchweg gutwillig, doch so eingebunden in das eigene Leben, dass sie nur zu schnell an die Grenzen ihres Mitgefühls stoßen. Irritierende Einbrüche versuchen sie wegzustecken wie einen lästigen Schluckauf, doch die Folgen sind – oft nur schwebend angedeutet – verheerend:
Der junge Mann im Zug zeichnet das Psychogramm des Amokläufers als sei es ein Bild von sich selbst. Der distanzierte Beobachter wehrt in einer Bar eine aufdringliche, gestörte Frau ab – sie bringt sich um, Kopf auf den Schienen. Der uneheliche Sohn kehrt müde vor Traurigkeit in sein altes Leben als saufender Loser zurück. Sie haben eben Pech gehabt.
"Ich spreche von Gnade – oder nennen Sie’s Glück, wenn Sie wollen. Ein stochastisches Glücksrad."
Der amerikanische Autor T.C.Boyle hat in seinen erfolgreichen Romanen schon viele Aspekte des amerikanischen Lebens ausgeleuchtet, mal in Form von Biographien, mal durch Konstellationen, in denen ganze Gruppen durch aktuelle Probleme angezählt werden, wie zuletzt in "Blues Skies" beim Thema Klimawandel.
Boyles großartige Stories dagegen sind weit weniger bekannt, doch das erzählerische Ziel ist das gleiche, sogar noch prägnanter und fokussierter. "I walk between the Raindrops" zeigt Ausschnitte vom schwierigen Tanz seiner Protagonisten zwischen den Einschlägen: In "Die Hyäne" verfällt ein ganzes Dorf durch kontaminiertes Mehl dem Wahnsinn; in "Nicht Ich" verfolgt ein junger Lehrer hilflos die verbotenen Liebesbeziehungen von Kolleginnen mit minderjährigen Schülern – ein umgekehrtes "MeToo"; "Der dreizehnte Tag" bringt die Erlösung von der qualvollen Quarantäne, die ein älteres Ehepaar während der Pandemie auf einem Kreuzfahrtschiff durchlitten hat – oder doch nicht?
"Der Zauber des Augenblick hielt an, es war überaus schön. Aber dann (…) rang ich plötzlich nach Luft. Im nächsten Moment musste ich husten und konnte nicht mehr aufhören. (…) sah meiner Frau in die Augen und sagte 'Es ist gleich vorbei'."
Die Stories – von Dirk van Gunsteren und Annette Grube virtuos übersetzt – sind zwar unterschiedlich in Qualität und Thema, doch gemeinsam ist ihnen der gelassene Erzählton: wie beiläufig, ohne dramatische Zuspitzungen. Und wenn doch mal Drama, kommt es auf Samtpfoten daher, durchtränkt vom trockenen, oft schwarzen Humor des Autors, der bei allem Verständnis für seine gebeutelten Protagonisten auch die Komik ihrer egozentrischen Begrenztheit auslotet. Selbst in einer nicht weit entfernten Zukunft, die er in kleinen Science Fiction-Entwürfen schraffiert: die totale Überwachung durch den Staat oder die KI im Auto, die das Kommando übernimmt:
"'Mach die Tür auf.' – 'Ich halte das für unklug.' – 'Weißt du was? Das ist mir scheißegal. Hast du mich gehört? Ob du mich gehört hast?'"
"I walk between the Raindrops" heißt: 13 Spiele zwischen Realität und Vision, phantasievoll und klug, oft makaber, immer psychologisch treffsicher. Typische T.C. Boyle-Geschichten und Beweise seiner literarischen Souveränität – nicht nur für seine ausgewiesenen Fans.