Can Dündar: "Wir haben kaum noch Luft zum Atmen"
Stand: 29.07.2016, 19:40 Uhr
Der türkische Journalist Can Dündar, wegen der Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, ist das Symbol für die gefährdete Pressefreiheit in der Türkei. Der Aktuellen Stunde hat er via Skype von einem geheimen Ort aus ein exklusives Interview gegeben.
Aktuelle Stunde: Aus der Türkei erreichen uns besorgniserregende Nachrichten. Fernsehsender und Zeitungen wurden geschlossen, Journalisten verhaftet, das Vermögen von 3.000 Juristen beschlagnahmt. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie all das hören?
Can Dündar: Ich bin sehr besorgt, sowohl im Hinblick auf meinen Berufsstand als auch auf die Gesamtsituation in meinem Land. Journalisten in der Türkei sind schon seit langem sehr großem Druck ausgesetzt. Die Entwicklungen nach dem Putsch haben den Druck, der auf der Presse lastet, noch weiter gesteigert. Man kann kaum noch atmen. Ehrlich gesagt: Als wir uns gerade über die Vereitelung des Putschversuchs freuen wollten, wurden wir mit einer Situation konfrontiert, die noch sehr viel schlimmer, die auch fast eine Putschsituation ist.
Aktuelle Stunde: Sie sagen, dass die Verfassung geändert werden sollte. Was sollte sich ihrer Meinung nach konkret ändern?
Erdogans politische "Säuberungen" betreffen auch Journalisten
Can Dündar: Das Land braucht eine demokratische Verfassung, die die Menschenrechte achtet, und eine laizistische Verfassung, die die Unabhängigkeit der Justiz zum Prinzip hat. Aktuell hat die Türkei hingegen nichts mit all dem zu tun. Es gelten weder Recht, noch Demokratie oder Menschenrechte. Deswegen meine ich, dass die Verfassung jetzt keine Anwendung findet. Wir haben einen Ausnahmezustand in der Türkei.
Aktuelle Stunde: Was bedeutet der Ausnahmezustand für Journalisten?
Can Dündar: Das bedeutet, dass sie noch weniger schreiben und reden können. Dass sie für das, was sie schreiben und reden, noch schneller bestraft werden können. Dass sie dafür ins Gefängnis kommen und noch längere Gefängnisstrafen bekommen können. Das bedeutet eine allgemeine Atmosphäre des Schweigens und Selbstzensur. Wir haben eine Medienlandschaft und Journalisten, die schon länger davor Angst haben, zu schreiben. Wir werden diesen Druck nun noch sehr viel stärker spüren.
Aktuelle Stunde: Was sollten europäische und deutsche Politiker Ihrer Meinung nach nun machen?
Can Dündar: Die Europapolitiker im Allgemeinen und die deutschen Politiker im Besonderen haben Erdogan bisher sehr unterstützt und ihm einen großen Kredit eingeräumt. Wir wissen, dass der Grund dafür das Flüchtlingsabkommen ist. Deswegen hat man vor Erdogans Verstößen gegen das Recht die Augen verschlossen. Ich denke, dass Europa und Deutschland eine Mitverantwortung für die heutige Situation tragen. Nun werden die Politiker sicher erkannt haben, mit welcher Art von Führer sie es zu tun haben. Ich würde empfehlen, nun die demokratischen Kräfte zu unterstützen.
Aktuelle Stunde: In Deutschland gibt es sehr viele Anhänger von Erdogan, aber auch Menschen, die gegen den Putsch waren. Sie wollen am Sonntag demonstrieren. Gibt es etwas, was Sie diesen Menschen mitteilen möchten?
Can Dündar: Ich möchte denjenigen, die sich für die Demokratie eingesetzt,sich vor die Panzer gestellt und den Putsch verhindert haben, meine Anerkennung aussprechen. Ich applaudiere ihnen im Stehen. Ohne ihre Bemühungen wäre die Türkei heute vielleicht an einem sehr viel schlimmeren Punkt. Aber ich erwarte auch von genau diesen Menschen in der jetzigen Situation, in der die Demokratie mit Füßen getreten, die Justiz ausgehebelt, wieder mit Folter begonnen und über die Todesstrafe gesprochen wird, dass die Menschen sich zur Demokratie bekennen. Die Menschen, die die Türkei vor einem Militärputsch bewahrt haben, sollten die Türkei nun auch vor einem Polizeistaat bewahren und für die Demokratie eintreten.
Aktuelle Stunde: Stimmt es, dass in der Türkei die Todesstrafe gefordert wird und dass es Folter gibt? Was wissen Sie darüber?
Can Dündar: Dazu gibt es Berichte von Amnesty International. Sie zeigen Aufnahmen von Gefangenen, die zum Verhör gebracht werden und wieder herauskommen. Wenn Sie sich diese genauer anschauen, kann man genau sehen, welche physischen Interventionen es gab. Ich bin sehr besorgt, was das Thema angeht. Es sah so aus, als wäre die Türkei für eine Weile diesen Fluch losgeworden, doch nun scheint er wieder zurückgekehrt zu sein.
Aktuelle Stunde: Möchten Sie in die Türkei zurückkehren?
Can Dündar: Selbstverständlich! Die Türkei ist meine Heimat und ich denke, dass ich mich dort engagieren und kämpfen muss. Kein Schriftsteller, kein Journalist und kein Bürger möchte fern der Heimat leben. Aber die Türkei muss seine Schriftsteller, Journalisten und Bürger so behandeln, wie es sich für einen Rechtsstaat gehört. Dafür müssen wir gemeinsam sorgen, ansonsten wird das Leben in der Türkei für uns alle sehr viel schwieriger.
Aktuelle Stunde: Sie sagen, dass alle gemeinsam für die Demokratie sorgen müssen. Warum gelingt das nicht?
Can Dündar: Wir sind schwach, weil wir nicht organisiert sind. Wir schaffen es nicht, zusammen zu stehen. Man sagt, dass das Stimmpotenzial von Erdogan in der Türkei bei 50 Prozent liegt. Wenn man das andersherum betrachtet, bedeutet das auch, dass 50 Prozent der Bevölkerung mit ihm unzufrieden ist und ihn nicht unterstützt. Schlimm ist, dass diese 50 Prozent, die gegen Erdogan sind, schwach sind und den Zustand der Rechtslosigkeit nicht erfolgreich bekämpfen, weil sie nicht zusammen halten und gemeinsam handeln. Unsere einzige Möglichkeit ist, gemeinsam Widerstand zu leisten.
Aktuelle Stunde: Haben Sie Angst davor, dass die Erdogan-Anhänger Sie erkennen?
Can Dündar: Nein, ich fürchte mich vor gar nichts, seit ich einmal in den Lauf einer Waffe geschaut habe. Wir leben mit den Menschen in einem Land und sollten keine Angst voreinander haben. Die Friedhöfe und Gefängnisse sind voll mit Journalisten. Das ist uns bewusst, wenn wir diesen Beruf ergreifen. Es geht nicht nur um meine Sicherheit, sondern um die Unsicherheit in der gesamten Nation. Deswegen ist es wichtig, dass wir fest zusammenstehen, denn nur wenn wir alleine sind, sind wir in Gefahr. Es macht keinen Sinn, sich zu verstecken und nicht mehr auf die Straße zu gehen. Das einzige, was uns schützen kann, ist unsere Solidarität.