Güterbahnhofsgelände in Duisburg während der Loveparade

Bilder der Überwachungskameras ausgewertet

Experte: Tragödie war absehbar

Stand: 22.11.2010, 02:00 Uhr

Alle Kamerabilder der Loveparade wurden jetzt analysiert. Das Fazit eines Sicherheitsforschers: Das Gelände war zu klein für die vielen Besucher. Bereits mittags hat sich die Katastrophe angebahnt.

Der Sicherheitsforscher Dirk Oberhagemann ist Forschungskoordinator der Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes e.V. in Altenberge im Münsterland. Zurzeit ist er an einem Forschungsprojekt zum Thema "Risiko Großveranstaltungen" für das Bundesforschungsministerium beteiligt. Oberhagemann hat anhand aller Videoaufnahmen die Personenströme der Duisburger Loveparade analysiert.

WDR.de: Was hat bei der Veranstaltung nicht funktioniert?

Dirk Oberhagemann: Das vorgesehene Gelände war für die Menschenmenge zu klein und demnach für die Loveparade nicht geeignet. Die Veranstaltung hätte nicht auf diesem Gelände stattfinden dürfen.

WDR.de: Was haben sie weiter festgestellt?

Oberhagemann: Der Veranstalter hat relativ früh sehr viele Eingänge zugemacht. Mir ist nicht bekannt, aus welchem Grund, ob das abgesprochen war oder ob der Veranstalter das selber veranlasst hat, damit er möglichst wenig Stress auf dem Gelände hat. Die Veranstaltung ist eigentlich nur mit einem Drittel der Kapazität auf dem Gelände gelaufen. Mit der vollen Besucherzahl wie geplant hätte es erst recht nicht geklappt.

WDR.de: Was haben Sie genau untersucht?

Oberhagemann: Wir haben die Besucherströme während der Loveparade ausgezählt. Die Personen, die am Bahnhof ankamen und zum Veranstaltungsgelände gingen und diejenigen, die aus dem Tunnel aufs Gelände strömten und wieder weggingen. Dafür haben wir eigenes Videomaterial verwendet und die veröffentlichten Videos, unter anderem die der Überwachungskameras des Veranstalters.

WDR.de: Wie haben Sie die Daten weiterverwendet?

Oberhagemann: Wir haben berechnet, wie viele Personen auf das Gelände strömen und wie viele tatsächlich darauf passen. Außerdem haben wir ausgerechnet, wie sich die Veranstaltung weiter entwickelt hätte, wenn alles hundertprozentig funktioniert hätte.

WDR.de: Was haben Sie herausgefunden?

Oberhagemann: Anhand der Videos haben wir festgestellt, dass die Problematik bereits um 14 Uhr mit der Floatsteuerung - der Steuerung der Festivalwagen - begann. Wir haben dann weitergerechnet und dabei festgestellt, dass spätestens gegen 18.30 Uhr entweder das Gelände oder die Stadt überfüllt gewesen wäre.

WDR.de: Was genau spielte sich bei der Steuerung der Festivalwagen ab?

Oberhagemann: Die Floats starteten um 14 Uhr, daraufhin füllte sich die Rampe langsam. Gegen 14.30 Uhr wurden die Floats angehalten, daraufhin entleerte sich die Rampe wieder und die Personen verteilten sich relativ gut aufs Gelände. Um 15 Uhr starteten die Floats wieder. Gegen 15.15 Uhr gab es eine große Lücke zwischen den Floats, vier bis fünf Festivalwagen kamen im kurzen Abstand oberhalb der Rampe vorbei - das führte zu einem großen Stau. Um 15.30 Uhr sind die Menschen auf der Rampe nach rechts und links ausgebrochen, weil sie nicht mehr länger warten wollten und weil von hinten immer mehr Leute ankamen.

WDR.de: Also wurde die Katastrophe durch die Floatsteuerung verursacht?

Oberhagemann: Ja, die Floats gingen zu nah an der Rampe vorbei. Damit wurde dann quasi, wenn es sehr dicht war, eine Sperre eingerichtet. Die Rampe hatte eine Fläche von circa 3.500 Quadratmetern. Wenn es sich oben staute, dauerte es etwa eine Viertelstunde, bis die Rampe gefüllt war.

WDR.de: Zu welchem Schluss kommen Sie aufgrund der neuen Daten?

Oberhagemann: Die Veranstaltung wäre zwischen 18 Uhr oder 19 Uhr aus dem Ruder gelaufen, selbst wenn alles optimal gelaufen wäre, weil einfach zu viele Personen für dieses Gelände und diesen Tunnel unterwegs waren. Entweder wäre die Stadt oder das Gelände überfüllt gewesen.

WDR.de: Hätte man das nicht im Vorfeld merken müssen?

Oberhagemann: Ja, sicher hätte man vorher etwas merken müssen und können. Aber vielleicht war die Aufgabenverteilung so kleinteilig, dass nicht das Gesamtkonzept verfolgt wurde.

WDR.de: War das Konzept von vornherein zum Scheitern verurteilt?

Oberhagemann: Ab einer gewissen Uhrzeit hätte es nicht mehr funktioniert, es ging nicht mehr.

WDR.de: Was werten Sie jetzt noch für Daten aus?

Oberhagemann: Wir werten zurzeit aus, wie es zu diesen Druckwellen innerhalb der Menschenmassen kommen konnte. Und wir überprüfen, was tatsächlich mit den Menschen in dieser lebensbedrohlichen Situation passiert ist.

Das Interview führte Stephanie Hajdamowicz