WDR-Ensembles: spannende Saison trotz und wegen Corona

Frische Ideen und neue Chancen

Stand: 24.09.2020, 09:48 Uhr

  • WDR Rundfunkchor mit neuem Chefdirigent und Kreativdirektor
  • Nicolas Fink und Simon Halsey sprechen über ihre neuen Aufgaben
  • Zum Einstand Benevolis "Pestmesse" am 25.9.
  • Die neuen interaktiven "Sing mit! digital"-Konzerte: Start am 28.9.
  • Singen in Zeiten von Corona

Sie sind ein eingespieltes Team, das mit ungewöhnlichen und innovativen Ideen begeistert. Wie lange arbeiten Sie schon zusammen?

Simon Halsey: Wir kennen uns schon seit 2004. Damals habe ich eine Meisterklasse für junge Chordirigent*innen geleitet, bei der auch Nicolas mit dabei war. Später haben wir dann in Berlin zusammengearbeitet. Zu der Zeit war ich noch sein Chef und er mein Assistent. Jetzt ist er der Chef. Ich arbeite sehr gerne mit ihm zusammen.

Für den WDR Rundfunkchor sind Sie kein Unbekannter, Herr Fink.

Für Nicolas Fink, den neuen Chefdirigenten des WDR Rundfunkchors, "geht ein Traum in Erfüllung".

Nicolas Fink: Ich habe in den letzten zehn Jahren schon oft als Gastdirigent mit dem WDR Rundfunkchor zusammengearbeitet. Was mich immer begeistert hat, ist die Qualität der einzelnen Sänger*innen. Es ist eigentlich ein Solist*innen-Ensemble, das als Chor funktioniert. Für mich ist es ein Traum, der in Erfüllung geht. Es ist natürlich eine große Verantwortung, so ein traditionsreiches Ensemble weiterzuführen. Ich war lange als Gastdirigent tätig, aber die Arbeit eines Chefdirigenten ist natürlich etwas anderes. Man ist mit dem Ensemble auf Tuchfühlung. Man kann es formen und sorgt mit dafür, dass es ihm gut geht. Das sind die Aufgaben, auf die ich mich schon lange freue. Und dass es jetzt in Köln geklappt hat, ist wirklich ein Glücksfall.

Auch Sie sind dem Chor schon lange verbunden, Mr. Halsey.

Der Brite Simon Halsey, neuer Kreativdirektor für Chormusik und Community-Projekte, ist Musiker, Dirigent, Chorleiter und Musikpädagoge.

Simon Halsey: Ich freue mich sehr, dass ich beim WDR und in Köln bin. Ich kenne den Chor jetzt seit vierzig Jahren. Er ist einfach ausgezeichnet!

Mir gefällt auch die Atmosphäre in Köln. Die Leute sind so freundlich. Man spürt eine Energie und die Bereitschaft, neue Ideen auszuprobieren. Wie zum Beispiel die "Sing mit! digital"-Projekte. Und es ist toll, das mit Nicolas machen zu können. Wir ergänzen uns sehr gut.

Für alle Chorsänger*innen: digitales "Rudelsingen" mit dem Rundfunkchor

Ein wichtiger Aspekt für die Position als Kreativdirektor ist Ihre große Erfahrung mit interaktiven und digitalen Publikums-Chorprojekten. Auch in Köln steht mit Felix Mendelssohn-Bartholdys "Lobgesang" schon bald ein "Sing mit! digital"- Konzert an. 

Simon Halsey: Ab dem 28. September kann das Publikum von Montag- bis Freitagabend über wdr-rundfunkchor.de und Facebook die Proben dazu mit mir machen. Die Aufführung machen dann alle zusammen: 38 Profi-Sänger*innen im Sendesaal verteilt, und zuhause singt jeder am 3. Oktober live zum Stream mit. Die Zuhörer*innen werden so das Gefühl haben, dass sie zuhause live mit dabei sind. Wenn man an rundfunkchor@wdr.de vorher ein Foto von sich schickt – singend! –, dann wird man im Stream eingeblendet.

Wir haben einige Experimente in dieser Richtung in Planung. Es ist ganz wichtig für den Chor, aber auch für den WDR generell, eine Verbindung zum Publikum aufzubauen, die Türen für Vokalmusik zu öffnen. Und das sind natürlich sehr spannende Projekte.

Menschen zum Chorsingen zu verführen, scheint Ihnen generell ein wichtiges Anliegen zu sein. In Berlin konnten Sie so zum Beispiel bei einem interaktiven Konzert über 30.000 Menschen zum Mitmachen bewegen.

Simon Halsey: Seitdem ich sechs Jahre alt war, habe ich sehr viel Freude an der Chormusik und will das auch mit dem Publikum teilen. Auch wenn manche Menschen keinen direkten Zugang zur Musik haben, so möchte ich ihnen doch den Schlüssel zu ihrem Verständnis geben. Für mich ist das absolut wichtig. Ich möchte, dass alle Menschen die Chance haben, Musik zu verstehen und sich an ihr zu erfreuen. Das sehe ich auch zukünftig als einen wichtigen Teil meiner Arbeit.

Orazio Benevolis "Pestmesse" – 400 Jahre altes Social Distancing

Zu Ihrem Einstand als Dirigent wird der WDR Rundfunkchor am 25. September in St. Aposteln Orazio Benevolis "Pestmesse" aufführen, Herr Fink. Ist die Werkauswahl eine bewusste Referenz an unsere Zeit?

Nicolas Fink: Wir hatten eigentlich ein anderes Programm geplant. Das ließ sich aber unter den Bedingungen der Corona-Schutzverordnung nicht durchführen. Das Management und ich haben deshalb beschlossen, aus der Not eine Tugend zu machen. Die Messe von Benevoli wurde 1656 während der Pest in Rom geschrieben, und bei ihrer Uraufführung standen die Sänger in vier Gruppen im Saal verteilt. Da ist das Social Distancing also quasi schon im Werk mit angelegt. Das ist ein gutes Stück, um an die Hilflosigkeit anzuknüpfen, die die Menschen damals während der Pest sicherlich erlebt haben.

In sozialer Hinsicht erleben wir gerade auch eine Hilflosigkeit. Wir spüren, dass diese Pandemie etwas mit uns macht. Auch wenn wir gesundheitlich nicht direkt betroffen sind, so merken wir doch, dass sie schwerwiegende Folgen auf unser Sozialleben hat. Und zwar in der Art, wie wir aufeinander zugehen. Das wird in dieser Messe ganz gut zum Ausdruck gebracht.

Corona wirft natürlich generell einen deutlichen Schatten auf Ihr Engagement in Köln. Welche Auswirkungen ergeben sich dabei für Ihre Arbeit?

Nicolas Fink arbeitete in den vergangenen zehn Jahren als Gastdirigent mit dem Rundfunkchor, hier bei der Rachmaninow-Produktion 2015.

Nicolas Fink: Natürlich war es zu Beginn ein großer Schock und auch Frust, dass man nicht das Repertoire machen kann, das man eigentlich machen wollte. Ich hatte schon sehr viele Ideen, in welche Richtung ich klanglich mit dem Chor gehen wollte. Inzwischen bin ich aus dieser Frust-Phase raus und merke durch die Arbeit mit kleineren Chorgruppen, dass es auch eine große Chance ist, direkt zu Beginn meiner Amtszeit mit den Sänger*innen so arbeiten zu können. Das gibt mir die Möglichkeit, sie nochmal ganz anders kennenzulernen. Es ist auch eine Gelegenheit, neue Klangwelten zu entdecken und zu erforschen. Im Moment wird eben alles in Frage gestellt.

Simon Halsey: Aber es ist gefährlich, wenn Corona weiter anhält. Und das besonders für die vielen nichtprofessionellen Chöre, die zum Beispiel schon ein Problem damit haben, dass sie keinen geeigneten Raum für ihre Proben finden, um die Abstände einzuhalten. Aber ich hoffe, dass wir im April oder Mai nächsten Jahres wieder bessere Bedingungen haben werden.

Brücken zum Publikum und ein optimistischer Blick nach vorn

Wie lässt sich unter Berücksichtigung der stets aktualisierten Corona-Schutzverordnung das Repertoire für eine ganze Spielzeit planen?

Nicolas Fink: Die Planungssicherheit ist wirklich ein Problem. Wir setzen uns quasi jede Woche zusammen und schauen, welche Konzerte in der geplanten Form stattfinden können. Die Saison war durchgeplant, aber alles hat sich natürlich schon wieder verändert. Wir befinden uns in einem Prozess.

Die Befolgung der Abstandsregel ist gerade bei Chormusik schwierig. Wie proben Sie überhaupt?

Nicolas Fink: Unter unseren normalen Bedingungen wären im Moment nur Proben mit acht Sänger*innen möglich. Deswegen haben wir nach einem größeren Raum gesucht. Den haben wir glücklicherweise auf dem WDR-Produktionsgelände in Köln-Bocklemünd gefunden. Dort stand die Halle leer, in der die "Lindenstraße" produziert wurde. Ich glaube, dass das eine ganz gute Lösung ist, denn da können wir die geforderten Abstände einhalten. Die klanglichen Probleme, die durch die Distanz der Sänger*innen zueinander entstehen, versuchen wir durch Technik zu lösen. So arbeitet der Chor beispielsweise mit In-Ear-Monitoring, also Kopfhörern im Ohr mit dem Sound der Kolleg*innen. Wie gesagt, die Krise ist auch eine neue Chance. Man lernt die Sänger*innen unter ganz anderen Umständen kennen.

Welche Aufgabe kommt dem WDR Rundfunkchor unter den momentanen Gegebenheiten zu?

Nicolas Fink: Gerade mit unseren "Sing mit! digital"-Aktionen versuchen wir nicht nur Brücken zu unserem Publikum zu bauen, sondern auch zur Chorszene allgemein. Es ist für uns als Rundfunkchor gerade wichtig, dass wir da Wege aufzeigen, wie Singen in der jetzigen Situation vielleicht doch möglich ist und die Tür zum Chorgesang öffnen. Das ist im Moment unser Fokus. Wir schauen einfach, wie wir vorangehen können. Wir wollen den Leuten zeigen, dass es eine Zeit nach Corona geben wird.